La réalite dépasse la fiction. Die Realität übertrifft regelmässig die Fiktion. Markus Kobelt erzählt in seinem Text unten nicht von seinen Angstträumen, sondern von der Realität. In der Schweiz ist tatsächlich eine Arbeitsgruppe daran, auf sehr fraglichen gesetztlichen Grundlagen (nämlich der Freisetzungsverordnung, die für gentechnoligisch veränderte Pflanzen entworfen wurde), Pflanzenverbote zu erlassen und Pflicht-Warnhinweise bei sogenannt gefährlichen Pflanzen einzuführen. Was ist gefährlich? Nun, unterdessen sind wir hier schon bei der Gartenbrombeere angelangt … Aber lesen Sie selber.
Süditalien, Lampedusa. 2014 kamen hier knapp 200’000 Menschen an aus Afrika. Andere Hautfarbe, andere Kulturen. Das Bedürfnis nach einem menschenwürdigeren Leben. Und das ist nun mal bei uns in Europa viel besser, eben menschenwürdig. Und es ist unsere verdammte Pflicht und Schuldigkeit als Menschen, die vorsätzlich schiffbrüchigen Flüchtlinge zu retten. Die italienische Marine, die italienischen Behörden, unterstützt von ihren Verbündeten in der EU, tun hier einen guten Job, immer professioneller. Und je besser sie ihren Job verrichten, umso mehr Menschen kommen nach. Menschen. Und so gut die Italiener ihre humanitäre Aufgaben erfüllen, so schlau folgt dann der Rest: Die meisten Flüchtlinge werden gar nicht mehr offiziell erfasst, denn dann hätte ja Italien eine (zugegebenermassen unzumutbare) Rücknahmepflicht; die Auffanglager sind deshalb bewusst offen und die Flüchtlinge verbreiten sich über Europa, dorthin, wo sie Verwandte und Bekannte haben, wo sie sich wohl fühlen können, wo sie hoffen, Fuss fassen zu können. Eine moderne Völkerwanderung, ein Strom, unaufhaltsam, langsam und stetig anschwellend. Niemand weiss, wie damit umzugehen ist. Alle Lösungen versagen, das Abkommen von Dublin ist faktisch tot, ein Quotensystem wird ebenfalls an der Summe der Eigeninteressen scheitern. 2015 wird mit 250’000 Flüchtlingen gerechnet.
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In Zürich, in der sicheren Schweiz, auf der Insel der Seligen, trifft sich regelmässig eine offiziöse Gruppe. In der überwiegenden Mehrheit wohlmeinende Beamte. Stichwort: Bundesamt für Umwelt. Federführend ist aber der Kanton Zürich, die Heimat der Hochfinanz, das wirtschaftliche Zentrum der Schweiz. Zuständig: Das Baudepartement, genauer das Amt für Abfall, Wasser, Energie und Luft, Abfallwirtschaft und Betriebe, Biosicherheit. Diesen Amtstitel muss man sich schon auf der Zunge zergehen lassen … Eigentlich das Amt für den grossen Rest. Und sie alle wollen die Schweiz retten. So in der Art. Retten vor sogenannten gebietsfremden Pflanzen, invasiven Neophyten. Mit dabei: Einige Verbandsvertreter, Mitarbeiter einer Baumschule, eine deutlich überproportionale Gesandtschaft von Beamten aus dem Tessin, dem Süditalien der Schweiz. Denn die Gefahr kommt auch hier – woher denn sonst – aus dem Süden. Und es ist ja schon gut und beruhigend zu wissen, woher die Gefahr kommt, wenn man sich alle 2 bis 3 Monate zu unglaublich wichtigen Sitzungen trifft. Denn wie gesagt gilt es ja, die Schweiz, unsere Natur, unsere Umwelt zu retten vor den gefährlichen, andersartigen, fremden Eindringlingen. Da kann kein Aufwand zu gross sein.
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Und natürlich können sich unsere mehr oder weniger selbsternannten Naturretter nicht mit einer Shortlist von wirklich gefährlichen, giftigen und Allergien auslösenden Pflanzen zufriedengeben. Die Gefahr lauert überall, ja genau da, wo man sie am wenigsten vermutet. Habe ich Allergien gesagt? Müsste man da nicht auch mal an den Apfel, an den Kulturapfel denken. Der kam ja auch irgendwann aus ? ja woher denn? Aus dem Kaukasus, jedenfalls nicht von hier! Und er löst fraglos bei einigen Menschen, leider wohl auch bei immer mehr Menschen Allergien aus … Aber ich bin jetzt zugegebenermassen etwas polemisch. Natürlich ist der Apfel NOCH nicht im Visier der AGIN, wie sich die Arbeitsgruppe im Dienst der Allgemeinheit und der politisch-biologischen Korrektheit nennt. Aber auf ihrer Watchlist von Pflanzen, die bald nur noch mit Warnhinweisen verkauft werden dürfen, finden wir schon jetzt gute alte Bekannte wie die Hanfpalme, den Kirschlorbeer, die Robinia pseudoacacia (die fleissig von den genau gleichen Städten gepflanzt wird, die nun zur definitiven Umkehr blasen). Mein klarer Favorit auf der Watchlist: Rubus armeniacus, die unsere studierten Botaniker gerne mit Gartenbrombeere übersetzen. Gemeint sind wohl die dornigen Gartenbrombeeren wie Theodor Reimers oder Himalaya, die wir bei Lubera schon lange mit dem Zusatz ‘biologischer Stacheldraht’ verkaufen, in der augenzwinkernden Hoffnung, dass die Kunden doch hoffentlich freiwillig unsere aufrechtwachsenden, besser schmeckenden, sich nicht über Ableger vermehrenden und zusätzlich auch noch dornenlosen Navaho-Brombeeren kaufen. Denn im Gegensatz zu den studierten Sitzungshockern sind wir Pflanzenzüchter nicht beim importierten genetischen Material des 19. Jahrhunderts stehengeblieben, das damals übrigens einen riesigen Fortschritt bei der Fruchtqualität brachte; wir haben längst schon bessere, einfacher zu kultivierende und dornenlose Brombeeren gezüchtet. Aber es sind letztlich immer noch ? Gartenbrombeeren. Werden wir bald auch diese Gartenbrombeeren mit einem Warnkleber verkaufen müssen? Und damit unseren Beitrag leisten, um die Schweiz vor der Infiltration und Unterwanderung durch fremdländische Pflanzen zu schützen? Und wie lange bitte wird es noch dauern, bis die AGIN Ihren Sicherheits- und Reinheitswahn auch auf den Apfel ausdehnt? Ich kann mich jedenfalls gut an einen wohlmeinenden und durchaus ernstgemeinten Diskussionsbeitrag einer Vizedirektorin des Bundesamts für Landwirtschaft erinnern, die allen Ernstes fragte, ob man nicht doch neue Apfelsorten vor der Inverkehrsetzung (das Wort stammt nicht von mir) zuerst ganz ähnlich wie Arzneien auf Ihre Sicherheit und Nebenwirkungen überprüfen sollte …
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Vielleicht kann uns hier die Psychologie weiterhelfen. Sie kennt den Begriff der ERSATZHANDLUNG. Hören wir kurz das Orakel von Wikipedia:
Ersatzhandlung (engl. redirection activity) ist ursprünglich ein Begriff aus der Psychoanalyse und beschreibt eine Handlung, die an die Stelle der ursprünglich angestrebten tritt, wenn diese durch Verdrängung oder äußere Hemmung nicht ausgeführt werden kann. Der Trieb oder das Bedürfnis, das hinter der angestrebten Handlung steht, verschiebt sich in ein anderes, dem ursprünglichen Ziele oftmals grundverschiedenes Handlungsziel, auch Ersatzbefriedigung genannt. Ersatzhandlungen können nach diesem Verständnis auch bewusst gesetzt werden, um etwa einen ungewollten Triebimpuls zu kontrollieren.
Wir leben hier im Mitteleuropa in einer Zeit, in einer Gesellschaft, die Freiheit in einem nie gekannten Ausmass kennt und zu recht auch hochhält. Für diese Offenheit, für diese Freiheit zahlen wir einen Preis. Und natürlich können und wollen wir diese Freiheit auch nicht in Frage stellen. Kein Mensch, dem das Menschsein wichtig ist, wird verlangen, dass die italienische Marine ihre Rettungsaktionen einstellt, um die Völkerwanderung zum Erliegen zu bringen. Niemand aber weiss eine Lösung. Dabei aber steht die Süd-Nord-Völkerwanderung nur pars pro toto, für die gesamten Veränderungen in Inhalt und Struktur, die unsere Umwelt und Gesellschaft rasend schnell verändern: unsere Städte, die das Land fressen, als hätten sie nie genug; das Klima, das uns immer mal wieder neue Phänomene präsentiert, Mitmenschen, die mehr und andere Farben zeigen, als vielen von uns lieb ist. Und da wird dann plötzlich der Nadelwald, der Douglasienwald, der da steht, wo vor einigen Hundert Jahren nur gemischte Laubwälder standen, zu einem sicherungswürdigen Artefakt, zu einem schutzwürdigen Objekt. Und die Kirschlorbeersträucher, die in einer Lichtung langsam und vorsichtig das neue Klima testen, werden zu einem ebenso einfachen wie willkommenen Feindbild. Viel einfacher jedenfalls, als mit den Ängsten umzugehen, die uns wirklich beschäftigen … Und politisch viel korrekter.
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Ein letztes Bild: Sachsen-Anhalt. Könnte natürlich auch Mecklenburg-Vorpommern gewesen sein. Eine Weiterbildungstagung für Gärtner, Gartenberater, die die Stadt- und Schrebergärtner beraten. Am Abend beim Bier, nach dem Austausch von spannenden Gartenerfahrungen sächselt ein erfahrener Altgärtner: Ja früher, ja damals in der DDR, da sei alles noch viel besser und einfacher gewesen, da hätten sie das alles nicht gekannt. Kein Feuerbrand, keine weissen Fliegen! Weder mit Kirschessigfliegen noch mit Kirschmaden hätten sie ihre Ernte teilen müssen. Eine Insel der gärtnerischen Glückseligkeit. Kurz vorher hatte ein anderer Teilnehmer der ebenso pflanzenverrückten wie reisefreudigen Runde von seiner Chinareise erzählt. Und selbstverständlich auch, welche Samen er mit nach Hause gebracht habe.
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Und um allen Missverständnissen vorzubeugen: Auch ich hätte Samen mitgebracht, wäre ich in China gewesen.