In den letzten Jahren tauchen vor allem in England immer wieder Rhabarbersorten auf, die einen grossen Ertrag auch im Herbst bringen. Sie reagieren also nicht gleich wie die herkömmlichen Rhabarbersorten auf den längsten Tag und stellen dann ihr Wachstum ein, sondern wachsen durch den Sommer in den Herbst hinein, wobei im Herbst ein richtiges Ertragshoch zu verzeichnen ist. Natürlich könnte man jetzt über den Oxalsäuregehalt diskutieren und sich fragen, ob der bei diesen Herbstrhabarbern nicht zu hoch sein könnte: Aber diese Diskussion ist bei den normalerweise genossenen Mengen an Rhabarbern pro Person nur theoretisch, und spielt eigentlich auch bei den normalen Rhabarbern keine Rolle (es ist halt immer noch die Dosis, die das Gift macht) … Auch die Regel, im Sommer mit dem Rhabarberschnitt aufzuhören, ist weniger dem Oxalsäuregehalt geschuldet, als der natürlichen Entwicklung der meisten Rhabarber Sorten, die ja auch im Sommer noch einige Blätter brauchen, um zu wachsen und genügend Winterreserven aufzufüllen.
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Geht man diesen neuen ‘herbsttragenden’ Sorten nach, von denen wir Livingstone ab sofort in unserem Sortiment anbieten, so verschwimmt die Herkunft schnell. Ich hörte da von meinen englischen Kollegen: “Ja wir hatten diese Sorte bei einem Anbauer gesehen, dann zu uns genommen und getestet”; oder: “Wir konnten die Rhabarbersammlung eines Enthusiasten übernehmen und darin fanden wir diese Sorte.” Diese Herkunftsgeschichten sind übrigens gar nicht ungewöhnlich: Auch vom Rhabarber existieren wie von vielen Kulturpflanzen Hunderte von Sorten, wie wir ja letztes Jahr im Interview mit den Rhubarb Ladies erfuhren.
Dann gibt es jetzt also Herbst-Rhabarber, die auch im Sommer und vor allem im Herbst abgeerntet werden können. “Braucht es das überhaupt?”, fragt man sich gleich. Nun ist es im Zeitalter der Tiefkühltruhe nicht gerade das vordringlichste Problem der menschlichen Ernährung, ganzjährig gartenfrischen Rhabarber zu geniessen, aber es ist andererseits doch ganz angenehm, auch diese erste Frucht des Frühlings (die eigentlich ein Gemüse ist) fast das ganze Jahr frisch zur Verfügung zu haben. Auch als Pflanze wird der Rhabarber so mehr Freude machen, wenn die Blätter das ganze Jahr durchhalten und sich nicht einfach im Sommer verabschieden. Natürlich bin ich da nicht um einen passenden Werbeslogan verlegen: Der Rhabarber wird zu einer Art Hostapflanze, die auch noch geerntet und gegessen werden kann ;-)
Der Herbst-Rhabarber ist aber keineswegs eine Erfindung unserer neuheitssüchtigen Moderne. Im Jahre 1890 führt ein gewisser Mr Topp aus Buninyong, Victoria, Australien “Topp’s Winter Rhubarb” ein, der sich schnell vor allem in Australien und Neuseeland verbreitete. Im australischen Urprungsklima stoppte er das Wachstum im heissen und trockenen Sommer, und mit den Herbstregen belebte er sich auf ein Neues und brachte so Winterrhabarber hervor. Ein australischer Rhabarberanbauer der 4. Generation, Mr Clayton, schreibt, dass dann mit dem Einsatz von Bewässerungssystemen im 20. Jahrhundert ein durchgehender Anbau möglich wurde. Hier hätten wir demnach das genau gleiche Wachstumsverhalten, das auch die neuen englischen Sorten wie z.B. Livingstone haben.
Die Geschichte geht noch weiter: Der Züchtungsheld der Wende von 19. Jahrhundert zum 20. Jahrhundert, Luther Burbank im kalifornischen Santa Rosa, hört oder las von der australisch-neuseeländischen Neuheit und ergatterte nach zwei vergeblichen Versuchen 1892 einige Rhizome. Diese Rhabarber pflanzte er auf, brachte sie zum Blühen, säte aus, selektionierte, dann den gleichen Prozess nochmals und nochmals und brachte dann 1900 den ‘Crimson Winter Rhubarb’ als absolute und nie gesehene Neuheit heraus. Ja, Marketing gab es schon damals …
Und natürlich konnte er sich einige Seitenhiebe auf die Züchtungskonkurrenz nicht verkneifen. So schrieb er 1910: “Alle mühen sich ab, Rhabarber zu züchten, die ein oder zwei Tage früher sind als andere frühen Rhabarber. Mein neuer ‘Crimson Winter Rhubarb’ liefert einen vollen Ertrag 6 Monatefrüher als alle anderen Rhabarber.” Rechnen wir zurück: 6 Monate vor April, das wäre November. Ja natürlich: im kalifornischen Klima durchaus denkbar, dass um diese Zeit dann noch ein starker Spätherbstertrag (oder eben Winterertrag) zu ernten ist. Dass sich die Spur des kalifornischen Winter- und Wunderstengels dann aber wieder verliert, ist vielleicht – so meine Vermutung – auf eine andere Eigenschaft des Rhabarbers zurückzuführen: Er baucht Winterkälte unter 2 ° Celsius, um wieder neu zu starten, und genau das könnte in einigen Regionen Kaliforniens das Problem (mindestens in gewissen Jahren) gewesen sein. Oder die australische Genetik hatte dank einer Laune der Natur auch dieses Problem gelöst und Rhabarber ohne Kältebedürfnis hervorgebracht (?) – was dann aber nicht erklären würde, warum der so hoch gelobte Winterrhabarber in Kalifornien verdächtig schnell wieder verschwand.
Wir bestaunen und beschimpfen heute gerne die moderne Globalisierung, aber eigentlich gab es sie in einem etwas menschennäheren Ausmass schon zur vorletzten Jahrhundertwende: Sowohl Topp’s Winter Rhubarb als auch Burbanks Crimson Winter Rhubarb kamen sehr schnell auch nach Europa, zuerst sicher nach England. Hier hatte sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts das wohl grösste Rhabarberanbaugebiet der Welt herausgebildet: das sogenannte Rhubarb Triangle in West Yorkshire. Und auch private Baumschulen boten Topp’s Winter Rhubarb schon im Jubeljahr 1900 öffentlich an (Daily Telegraph vom 8. Juni).
Da liegt es jetzt natürlich nahe, das neuerliche Auftauchen von Herbst-Rhabarbersorten auf diese über 100 Jahre alte Geschickte des transkontinentalen Rhabarber-Swaps zurückzuführen. Es besteht eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass einige Sorten oder deren Abkömmlinge in privaten oder öffentlichen Rhabarbersammlungen (wovon es auch in England mindestens zwei gibt) überlebten und jetzt ganz einfach wiederentdeckt werden.
Das ist übrigens nichts Schlechtes: Jede Zeit und jeder Markt wählt sich seine Sorten auch aufgrund der sozioökonomischen Umstände aus. Der Winterrhabarber um 1900 geht auf die grosse Bedeutung des Profianbaus zu dieser Zeit zurück, auf die fehlende Tiefkühltechnik und auf den Versuch, unter den gegebenen Umständen Ertrag, Kontinuität der Belieferung und damit auch die Profite zu maximieren. Wenn jetzt wieder Herbstrhabarber auftauchen, und zwar gerade im Markt für die Hobbygärtner, dann geht es um Frische, also gerade um den Verzicht auf Konservierungstechniken, um die Lust, das frische süss-saure Gemüse dauernd und direkt im Garten zur kulinarischen Verfügung zu haben.