Dass die Engländer heisses Wasser trinken, hat schon viele vor und auch nach Asterix erstaunt. Man muss sich das mal vorstellen: Da gab es seit alters her auf der Insel natürlich Wasser, dann noch Cider, Bier, allenfalls Met und eingeführten Wein. Also Alkohol und Wasser, von beidem nicht zu knapp. Und dann plötzlich beginnen im 16. Jahrhundert einige Hofdamen, gelehrte Kenner und Wissenschaftler Tee zu trinken, Wasser mit noch etwas dazu, grünlich bis braun und schwarz, schwer zu beschreiben… Nur 100, vielleicht auch 150 Jahre später hat sich der Tee durch die Gesellschaft hindurchgespült und ein ganzes Volk trinkt im 18. und 19. Jahrhundert Tee, aus Biertrinkern wird eine Insel von Teetrinkern - eine Sitte oder Ritual (vielleicht sogar eine Sucht?) mit bedeutenden wirtschaftlichen Folgen und Begleitumständen. Wie kann, wie konnte es so weit kommen?
Tee ist eine psychoaktive Substanz - wie Kaffee, Kakao, Bier, Wein….
Nun ja, vielleicht die erste Erklärung beschäftigt sich mit der menschlichen Natur: Diese neigt ja ein bisschen zu psychoaktiven Substanzen. Mit den einen wollen wir den harten, ja manchmal auch sehr grauen und grausamen Alltag vergessen (Alkohol, Opiate….), mit den anderen suchen wir leichte Zerstreuung, Genuss, nicht zuletzt aber auch Wachheit, letztlich den Sieg des gestärkten Bewusstseins über die allzu menschliche Natur. Denn genau das diskutierten die wissenschaftlichen Diskussionszirkel, als der Tee nach Holland und England kam: dass man mehr arbeiten, besser denken kann und natürlich auch weniger sinnlos schlafen muss.
Warum Tee statt Bier?
Die Ergänzung und dann Ablösung oder eher Ergänzung der Alkoholika als favorisierte Getränke der Briten ist so ganz nicht zu erklären. Wie konnte ein Volk von durchaus fröhlichen bis grob-enthemmten Biertrinker zu Teetrinkern werden, teilweise ohne die alte Sitte - das Biertrinken - ganz aufzugeben? Zwei Seiten der gleichen Medaille, die Tendenz der Menschen zu mehr Wachheit und Erkenntnis, aber auch zu mehr Rausch? Letztlich ist aber Alkohol eine psychoaktive Substanz, deren gefährliches Potential - der Rausch, die Zerstörungskraft, die Enthemmung, die Gewalt - den Menschen in der frühen Neuzeit, mit der Aufklärung nicht verborgen bleiben konnte. Wer wirklich denken will, trinkt besser nicht allzu viel Alkohol, obwohl es immer wieder Schriftsteller gab, die das Gegenteil behaupteten. (Auch mir riet eine Mitarbeiterin vor einigen Jahren zu mindestens einem Bier vor der Schreibarbeit.) Vielleicht ist so gesehen der Tee - vielleicht zusammen mit Kaffee - das Getränk der Neuzeit, gleichzeitig Treibstoff und Resultat der Aufklärung. Wobei sich die Aufklärung natürlich bei weitem nicht auf der ganzen Front durchsetzen konnte: Bier wurde und wird weiterhin getrunken, aber um 1840 war der Teekonsum in England deutlich grösser als der Bierkonsum. Immerhin.
Warum Tee statt Kaffee oder Kakao
Wenn auch die drei Getränke ungefähr um die gleiche Zeit, ab dem 16. Jahrhundert in Europa eingeführt wurden (der Kaffee war etwas früher), so fällt eines auf: Tee ist bei weitem das wässrigste Getränk der neuen psychoaktiven Genussstoffe. Wobei man als vierten Stoff auch den immer besser erreichbaren Zucker anfügen sollte, der alle drei psychoaktiven Getränke noch verstärken kann. Tee ist nicht nur optisch die durchsichtigste, leichteste und vergänglichste Substanz, sondern hat auch die feinste und subtilste Wirkung. Könnte vielleicht heisses Wasser mit etwas Placebo Effekt nicht ähnlich wirken? Auffällig ist, dass sich der Tee gegen den Kaffee vor allem in reformierten und anglikanischen Regionen (Holland, Norddeutschland, eben England) mit den im 17. und 18. Jahrhundert stark aufkommenden Sekten und diversen Glaubensrichtungen durchsetzen konnte. Noch vor 50 Jahren lernte ich im Sonntagschul-Unterricht ein Lied (ich kann es leider nicht mehr reproduzieren), in dem eindringlich vor Alkohol und Kaffee gewarnt wurde. Jedenfalls kann ich mich nicht erinnern, dass Tee erwähnt wurde. Der Katholizismus neigt zur Deftigkeit, zum Fleischlichen, zur Sinnlichkeit. Zu Blut, Wein und allenfalls auch Kaffee. Der Protestantismus will es geistig und vergeistigt, er will erhellt und wach sein, und sicher nicht berauscht und enthemmt. Die Aufklärung kommt nicht ohne Verklemmung aus. Wo passt nun Tee am besten hin?
Opium fürs Volk - der Tee und die ganze andere psychoaktive Substanz
Natürlich können wir den Erfolg des Tees in England und einigen angrenzenden, meist protestantischen Gebieten nicht abschließend erklären, nur ein paar Lichtblitze hierhin und dorthin senden. Aber eine Geschichte, und zwar jetzt eine etwas weniger fromme und religiöse, muss noch erzählt werden: Zwei psychoaktive Substanzen, Tee und Opium wurden fast 250 Jahre lang im fatalen Doppelpack gehandelt bzw. im Dreieck verschoben. Die Engländer bzw. ihre famose und weltdominierende Ostindien-Handelskompagnie produzierten Opium in Indien (unter einem staatlichen Monopol), verkauften dieses nach China, und kauften mit dem Gewinn Tee, der dann in Europa, vor allem in England seine immer häufigeren Abnehmer fand. Ein fatales Dreiecksverhältnis, das sich ökonomisch und sozial immer verstärkte, vielleicht gar als Spiralentwicklung, als Steigerung beschrieben werden sollte: Je mehr Opium in China verkauft und konsumiert wurde, desto besser konnte trotz des chinesischen Monopols und der Geheimniskrämerei um die Kunst der Tee-Herstellung der geliebte Tee eingekauft werden, der dann seinerseits immer mehr Abnehmer in England fand, was natürlich auch den Opiumanbau in der indischen Riesenkolonie wieder interessanter machte. Mehr Tee führte zu mehr Opium, und dieses wiederum zu mehr Tee. Und natürlich war Opium dank der vielviel stärkeren Suchtwirkung der Treiber der Entwicklung. Jetzt will ich selbstverständlich nicht den Chinesen die Verantwortung für den bösartigen Opiumhandel zuschieben, aber auf eine vertrackte Weise verstärkte sich dieser Dreiecksverkehr von allen drei Seiten her: von England, von Indien und von China.
Der Tee- und Opiumkrieg
Diese wirtschaftliche Logik wird meist vergessen, wenn man vom ersten Opiumkrieg 1839 bis 1842 spricht (von dem es übrigens zwei gibt und bis heute noch viele mehr). Es war ein Opium- und Teekrieg. Wie denn sonst als mit Opium hätten die Briten ihren Tee bezahlen sollen? So gewaltig war das Interesse der Chinesen an Schafwolle und groben Textilien aus England denn auch wieder nicht. Die Chinesen hatten ja selber Seide genug, das heisst die fast unverständlich bösartige Koppelung von Tee und Opium war einfach der wirtschaftlichen Notwendigkeit geschuldet, die Bilanzen ausgeglichen zu halten: Und das war nur mit Opium für‘s chinesische Volk möglich…
Bild (Wikipedia): Opiumhöhle in Kolkatas Chinatown 1945. Durch die Konzession konnten die Konsumenten das Opium legal rauchen. Eine Opiumpfeife kostete eine Rupie.
Bild (Wikipedia): Opiumhöhle in London 1874 - Illustration London News vom 1. August 1874
Der Rest ist - glücklicherweise - Geschichte, die aber plötzlich sehr verständlich und auch nah und altbekannt wirkt: Gegen 1830 hatten die Chinesen endlich genug von der Opiumseuche, sie wollten nicht mehr Hand bieten zu einem Geschäft, das das eigene Volk umbringt. Man bedenke: um 1850 sollen bis zu 10% der Bevölkerung - 40 Millionen von 400 Millionen - schwer opiumabhängig gewesen sein. Das chinesische Opiumverbot führte zum ersten und wohl bekanntesten Beispiel der Kanonenboot-Diplomatie: Die Briten schickten ihre überlegene Flotte in die chinesischen Küstenstädte, dann den Flüssen entlang ins Landessinnere, schossen ein paar Kanonenkugel ab und demonstrierten vor allem ihre überlegene Stärke, bis die Chinesen kapitulierten: Der Opiumhandel war wieder erlaubt, der Anfang des chinesischen Niedergangs war eingeleitet, der schliesslich im 20. Jahrhundert zu Fremdbesetzungen und verheerenden Bürgerkriegen und schliesslich zur kommunistischen Machergreifung führte.
Indischer Tee
Die siegreiche Weltmacht England aber wollte dann doch den Machtanspruch der Ostindienkompanie etwas eindämmen, hob deshalb in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts deren Monopol für den Indienhandel und den Chinahandel auf. Kurz und mittelfristig erhöhte dies den Handels- und Opiumdruck auf China, weil damit unzählige Konkurrenzfirmen das perfekte Geschäftsprinzip der Ostindien-Gesellschaft (Opium für Tee) zu kopieren versuchten, aber mittel- und längerfristig führte das doch zur Aufbrechung des Zwillingsverhältnisses von Tee und Opium: Die Ostindien-Gesellschaft, in ihrem Kern durch die zunehmende Konkurrenz bedroht, suchte nach Mittel und Wegen, Tee endlich auch in ihrem eigenen Staat Indien anzubauen, den sie für England (und für sich) zusammengeführt hatte und nun im Auftrag der Krone verwaltete.
Frischtee erzählt Geschichte und Geschichten
An alle diese Geschichten und noch viel mehr kann und muss man gerne denken, wenn man den eigenen Tee aus dem eigenen Garten geniesst. Tee hat Geschichte und erzählt Geschichten. Und eine seiner grössten und schönsten Geschichten ist genau das: Dass der Tee jetzt nach seiner abenteuerlichen Odyssee von China nach England, dann nach Indien und in die ganze Welt bei uns gelandet ist: In Ihrem Garten, als Frischtee auf Ihrem Tisch.