Anfang Juli hatte ich die einzigartige Gelegenheit, den weltbekannten Pflanzenflüsterer Carlos Magdalena in den Royal Botanical Gardens Kew in Grossbritannien zu treffen. Der Gärtner und Seerosenexperte hatte gerade seine Entdeckung der weltweit grössten Seerosenart Victoria boliviana veröffentlicht. Dieser Bericht schlug ein wie eine Bombe und ging innerhalb von Stunden um die Welt.
Inhaltsverzeichnis
- Was ein Pflanzenzüchter von Lubera in England macht
- Was kaum jemand über Kew Gardens weiss
- Die Entdeckung einer neuen Art
- Kein Professor, sondern "nur" ein Gärtner
- Wie eine neue Art das Problem des Artenverlustes lösen kann
- Carlos Magdalena, der Pflanzen-Messias, der die "lebenden Toten" wiederbelebt
- Die unglaubliche Geschichte des "Café Marron"
- Wie Ramosmania rodriguesii zum Fruchten gebracht wurde
- Handelt es sich um zwei verschiedene Pflanzen?
Was ein Pflanzenzüchter von Lubera in England macht
Aber warum war ich als Züchter von Lubera eigentlich überhaupt im Vereinigten Königreich. Sollte ich nicht besser in der Schweiz oder Deutschland arbeiten? Das Ganze hat seinen Grund darin, dass Lubera Mitglied eines Züchtungskonsortiums in East Malling im Osten Englands ist. Hier wird in einer alten weltbekannten Anlage seit über 100 Jahren Obstzüchtung betrieben. Wir als Lubera sind seit vielen Jahren besonders an der Himbeer- und Brombeerzüchtung von East Malling beteiligt und diese Woche findet ein wichtiges Treffen für alle am Züchtungsprogramm beteiligten Parteien statt.
So ergriff ich die Gelegenheit einer notwendigen Englandreise beim Schopf, um gleichzeitig mit Myles Irvine, einem der weltbesten Passionsblumenzüchter die Kew Royal Botanical Gardens in London zu besuchen. Ich arbeite ja auch an der Züchtung winterharter Passionsfrüchte, und da ist ein Austausch mit anderen Züchtern immer hilfreich. So hatte ich das Privileg, die weltweit grösste Pflanzensammlung auch hinter den Kulissen zu besichtigen und mit Carlos Magdalena zu sprechen.
Bild: Der Passionsblumenzüchter Myles Irvine, der Pflanzen-Messias Carlos Magdalena und Raphael Maier von Lubera (v.l.n.r)
Was kaum jemand über Kew Gardens weiss
Jedes Jahr besuchen ein bis zwei Millionen Menschen Kew Gardens und erfreuen sich dabei an den riesigen, alten viktorianischen Gewächshäusern mit ihren vielen exotischen Pflanzen. Was die meisten Besucher dabei jedoch nicht wissen, ist, dass das grösste Gewächshaus vor den Augen Tausender Touristen verborgen ist. Hinter den Kulissen gibt es nämlich die "Tropical Nursery": ein riesiges und supermodernes Gewächshaus, in welchem fast alle Klimazonen der Erde nachempfunden werden, um seltene und vom Aussterben bedrohte Arten zu vermehren. Jedes "Zimmer" hat hier andere Bedingungen, welche exakt auf einen bestimmten Lebensraum abgestimmt sind. In diesem Pflanzenreich, arbeitet und forscht Carlos Magdalena, mein Gastgeber und Kew-Führer.
Bild: Schild mit den Angaben zur Vermehrung tropischer Arten.
Bild: Die Bromelien Sammlung von Kew Gardens.
Die Entdeckung einer neuen Art
Magdalenas Spezialgebiet sind Seerosen. Kew Gardens ist bekannt für seine Riesenseerosen der Gattung Victoria. Diese wurden typisch britisch nach der damaligen Königin "Queen Victoria" benannt. 1849 wurde extra für die neue Art ein eigenes Gewächshaus gebaut, das "Waterlily House". Offiziell beherbergte Kew für Jahrzehnte die beiden bekannten Victoria Arten: Victoria amazonica und Victoria cruziana. Als Seerosenexperte fiel Magdalena schnell auf, dass eine der Pflanzen in Kew ganz anders war als die bekannten zwei Arten. Aber war es möglich, dass sich eine neue Art über 177 Jahre lang vor aller Augen versteckt hielt? Eine Art mit über 3 Meter grossen Blättern, welche in mehreren botanischen Gärten zu finden ist?
Bild: Die Riesenseerose Victoria amazonica im Waterlily House in Kew
So machte sich der passionierte Gärtner auf die Suche, um seine Vermutung wissenschaftlich zu beweisen. Er sammelte alle Bilder, die er im Internet von Naturfunden finden konnte, kontaktiere Forscher und botanische Gärten in Bolivien. Als er Samen aus dem ursprünglichen Verbreitungsgebiet in Kew neben den Samen der bekannten Arten keimen liess, war er sich sicher: Diese Pflanze ist in allen Aspekten anders.
Kein Professor, sondern "nur" ein Gärtner
Als Gärtner hat man eine ganz besondere Beziehung zu Pflanzen. Man sieht sie täglich, man beobachtet sie wachsen, lernt ihre Bedürfnisse kennen, und kennt sie am Ende wie einen guten alten Freund. So erstaunt es nicht allzu sehr, dass Carlos Magdalena kein Botanik-Professor an einer Universität ist, auch hat er keinen Doktortitel in Molekulargenetik, sondern er ist eigentlich vor allem Gärtner. So sah er von Anfang an, dass er hier eine ganz neue Art vor sich hatte, während viele seiner Vorgesetzten und Wissenschaftler sehr lange skeptisch waren, obwohl sie die Pflanze kaum mit eigenen Augen sahen.
Bild: Beschreibung der Unterschiede zwischen den drei Riesenseerosen Arten
Daraufhin versuchte Magdalena alle ihm bekannten Beweise systematisch zusammenzutragen: Von der detaillierten morphologischen Beschreibung der Pflanze, dem genauen Lebensraum bis hin zu genetischen Untersuchungen. Und so kam es, dass just an dem Tag, als ich ihn in London besuchte, der wissenschaftliche Artikel zur Erstbeschreibung dieser neuen Seerosenart im renommierten Journal "Frontiers of Science" veröffentlicht wurde. Journalisten aus der ganzen Welt riefen ihn bereits um 3 Uhr morgens an und liessen nicht locker. Von CNN über die Süddeutsche Zeitung bis hin zu vietnamesischen Lokalzeitungen berichteten darüber.
Wie eine neue Art das Problem des Artenverlustes lösen kann
Nun mag sich manch einer denken: Naja die Pflanze war ja schon seit über 100 Jahren im botanischen Garten, was macht es für einen Unterschied, wenn sie jetzt als neue Art eingestuft wird? Hierzu muss man verstehen, dass der Artenverlust heute wahrscheinlich eines der dringendsten Probleme darstellt. Man hört sehr viel über das Problem des Klimawandels, jedoch ist der Verlust der Biodiversität aktuell noch viel gefährlicher. Eine Art, welche einmal ausgestorben ist, ist für immer verschwunden.
Das ist gerade auch für uns Pflanzenzüchter ein riesiges Problem. So sind beispielsweise 60 % der Kaffee-Wildarten gefärdet oder vom Aussterben bedroht. Jedoch besitzen diese Arten Resistenzen gegen Krankheiten, welche die weltweite Kaffeproduktion bedrohen. So können Züchter heute solche Resistenzen in den Arabica Kaffe einkreuzen, um ihn widerstandsfähiger zu machen. Sterben diese Arten aber aus, so steht der Kaffee hilflos diesen Krankheiten gegenüber.
Bei unserer neuen Riesenseerose kann die Einstufung als eigene Art helfen, diese unglaubliche Pflanze für viele Generationen zu erhalten. Denn eine Art, welche offiziell nicht existiert, kann auch nicht geschützt werden. Nun gibt es aber Bestrebungen, das Ursprungsgebiet von Victoria boliviana als Naturschutzgebiet auszuweissen. Dadurch könnte diese einzigartige Art gut geschützt werden und die lokale Bevölkerung würde von Ökotourismus rund um die grösste Seerose der Welt profitieren.
Bild: Victoria amazonica, Victoria cruziana und die neu beschriebene Art Victoria boliviana nebeneinander in Kew Gardens
Carlos Magdalena, der Pflanzen-Messias, der die "lebenden Toten" wiederbelebt
Carlos sieht die Entdeckung dieser neuen Art als bisherigen Höhepunkt seiner Laufbahn. Dabei hat er schon in der Vergangenheit Grosses geleistet und wurde weltweit als der Pflanzen-Messias bekannt. Durch seine Arbeit als Gärtner und Pflanzenfreund, war er sich seit langem des Problems aussterbender Pflanzenarten bewusst. Hierbei spezialisierte er sich besonders auf sogenannte "lebende Tote", das heisst Pflanzen, welche in nur wenigen Exemplaren bekannt sind und, die sich augenscheinlich nicht fortpflanzen oder fortpflanzen lassen. So hat er es beispielsweise geschafft, nach vielen Versuchen eines der letzten Exemplare der weltweit kleinsten Seerose zum Fruchten zu bringen. Aber die wahrscheinlich bisher faszinierendste Geschichte handelt von einem Kaffeeverwandten aus dem Indischen Ozean.
Bild: Nymphaea thermarum, die kleinste Seerose der Welt wurde von Carlos Magdalena gerettet.
Die unglaubliche Geschichte des "Café Marron"
1980 schickte ein Lehrer auf der Rodriguez Insel im Indischen Ozean seine Schüler los, um Pflanzen zu sammeln. Dabei entdeckte ein Schüler die Pflanze Ramosmania rodriguesii, welche schon seit dem 19. Jahrhundert als ausgestorben galt. Jedoch wurde das einzig bekannte Exemplar dieser als "Café Marron" bekannten Pflanze schnell das Objekt der Begierde für rücksichtslose Plünderer. So wurden vorsichtshalber Stecklinge geschnitten und in den Botanischen Garten Kew nach Grossbritannien geschickt. Die wunderschöne Pflanze blühte dort auch reichlich, wollte jedoch jahrelang trotz vieler Bemühungen keine Früchte produzieren.
Bild: Café Marron mit seinen wunderschönen weisen Blüten in der "Tropical Nursery" von Kew
Wie Ramosmania rodriguesii zum Fruchten gebracht wurde
So schien der Café Marron früher oder später zum Untergang bestimmt, da sich die Pflanze ohne Samen nie selbst vermehren könnte. Als engagierter Gärtner nahm Carlos die Herausforderung an, dieser kaffeeverwandten Pflanze ein zweites Leben zu ermöglichen. Er erkannte, dass der Schlüssel darin lag, die Mechanismen, welche eine Selbstbefruchtung verhinderten, zu umgehen. Dank etwas Kreativität und viel Erfahrung fand er heraus, dass die Blüte guten Pollen produzierte, jedoch die weibliche Narbe diesen nicht annahm. So schnitt er kurzerhand den Stempel der Blüte ab und pinselte den Pollen direkt in die offene Wunde. So schaffte er es gegen alle Voraussagen, eine erste Frucht mit 7 Samen zu produzieren. Diese Samen wurden rasch an das Vermehrungslabor geschickt, aber leider konnten sich die Sämlinge nicht etablieren. Dennoch war dies der erste Hinweis darauf, dass es noch Hoffnung für den Café Marron gab.
Nachdem weitere Versuche mit der Stempel-Amputationsmethode fehlgeschlagen waren, vermutete Carlos, dass wohl die Wachstumsbedingungen der ersten fruchtenden Pflanze ideal gewesen waren. In der Tat konnten Carlos und sein Team durch Wiederholung derselben Bedingungen der Ramosmania andersartige Blüten entlocken. Nach fast 300 Versuchen diese Blüten zu bestäuben, bildete sich eine Handvoll Früchte! Von diesen Früchten wurden über 100 lebensfähige Samen produziert. Mehr noch, diese Samen keimten und die Sämlinge wuchsen erfolgreich. Carlos und sein Team lernten dabei eine Menge über die Biologie dieser faszinierenden Art.
Handelt es sich um zwei verschiedene Pflanzen?
Aber die Geschichte ist hier noch nicht zu Ende. Als die Sämlinge weiterwuchsen, geschah etwas Überraschendes. Die Nachkommen sahen der erwachsenen Pflanze überhaupt nicht ähnlich. Während die erwachsene Pflanze runde, grüne Blätter hat, waren die Jungpflanzen bräunlich und lanzettlich. Das war ein Rätsel, vor allem da niemand wusste, wie die Jugendform dieses Strauchs aussehen sollte. Erstaunlicherweise verwandelten sich die Pflanzen mit zunehmender Reife schliesslich in die erwachsene Form. Es scheint, dass hinter dem Geheimnis dieser Art mehr steckt, als die Botaniker je vermutet haben. Bleibt die Frage, warum der Café Marron so drastisch unterschiedliche Lebensstadien durchläuft?
Bild: Blätter der erwachsenen Pflanze auf der linken Seite und Blätter der Jungpflanze auf der rechten Seite.
Die Antwort hat mit einer Riesenschildkrötenart, dem natürlichen Fressfeind des Café Marron zu tun. Die Schildkröten werden von den leuchtend grünen Blättern der ausgewachsenen Pflanze angezogen. Indem die Pflanze braune, dünne Blätter ausbildet, solange sie sich noch in bequemer Fresshöhe befindet, macht sie sich für die Schildkröte fast unsichtbar. Erst wenn sich die Pflanze dank ihres Wachstums ausserhalb der Reichweite dieses gepanzerten Pflanzenfressers befindet, verwandelt sie sich in ihre erwachsene Form. Im Grunde genommen tarnen sich die jungen Pflanzen vor dem wichtigsten Pflanzenfresser der Insel.
Bild: Etikett einer der Pflanze welche 1986 von der Insel Rodriguez nach Kew kamen
Dank der Bemühungen von Carlos und seinem Team in Kew konnten mehr als 1000 Samen produziert werden, von denen die Hälfte nach Rodrigues zurückgeschickt wurde, um bei der Wiedereinführung der Art verwendet zu werden. Bis heute sind über 300 dieser Samen gekeimt, so dass der Auswilderung nichts mehr im Wege steht. Selten hört man solch erstaunliche Erfolgsgeschichten, wenn es um bedrohte Tier- oder Pflanzen-Arten geht. Aber dank engagierten Gärtnern wie Carlos und seinem Team können zum Aussterben verdammte Arten wiedererweckt werden. Dies sollte uns Hoffnung für die Zukunft geben und motivieren, mehr über unsere faszinierenden Pflanzen zu lernen.