Als ich vor einem halben Leben Obst- und Weinbau studierte, in Wädenswil, da hatten wir einen Nachmittag in der Woche Weine zu beurteilen, zu degustieren. Jetzt denkt man sich als Leser natürlich sofort: Ah ja, junge Erwachsene, Obstbauern und Weinbauern erst recht, und einen Nachmittag auf Du und Du mit dem Alkohol, das wird wohl sehr lustig gewesen sein … war es aber eigentlich – mindestens in meiner Erinnerung – nicht. Es war ganz einfach Arbeit und meist war man nachher, trotz dem Ausspucken des Weins, nicht mehr für allzu viel anderes zu gebrauchen. Und es war nicht nur der durch die Mundschleimhaut eingedrungene Alkohol, der so müde machte.
Ich lernte, meinem ersten Urteil zu vertrauen, es schnellstmöglich in Worte umzusetzen, es zu formulieren. Und ich lernte, dass dieses erste Urteil meist das beste war. Aber natürlich war es auch ein relatives Urteil: Es verglich vorher und nachher, es entschied sich für besser, schlechter oder anders. Und blickte man auf Trink-Nachmittage zurück, so war es eine kaum zu überblickende Aneinanderreihung von relativen Urteilen. Das war meist weit und breit kein ‘Erlebnis’. Wahrscheinlich waren es dafür auch einfach viel zu viele Weine …
Ganz ähnlich ergeht es mir in der Primärselektion von Apfelzüchtungen, also wenn ich zum ersten Mal meine neue Apfelgenotypen durchdegustiere, in den langen Reihen der Züchtungsanlage, einen Apfel nach dem anderen. Auch da sind erinnerliche Erlebnisse sehr selten; es sind gute und genaue, meist noch nach Jahren reproduzierbare Urteile, es sind klare Entscheidungen, welche Sorten man vermehren, genauer anschauen möchte; aber die Sorten gewinnen noch lange keine Individualität.
Dazu kommt es erst 4-5 Jahre später, wenn die positiven Primärselektionen in einem ausgedehnteren Versuch mit mehr Bäumen pro Sorte, aber natürlich nur noch in einer überblickbaren Anzahl von Sorten, aufgepflanzt sind. Und wenn ich dann durch die Reihen gehe und zum gleichen Erntezeitpunkt nur noch 5-10 Sorten degustiere, vielleicht auch eine zweite Runde mit den besten 3 einschiebe, dann setzen sich die Einzelurteile langsam aber sicher zu einem Bild zusammen. Dann sind meine Lieblingsäpfel plötzlich ganz einfach gut, spannend, berührend. Das relative Urteil wird zu einem absoluten, wird zu einem Erlebnis. Und die Äpfel beginnen, ihre eigenen Geschichte zu erzählen.
Ein letztes Beispiel noch: Als wir in unserem Betrieb in Bad Zwischenahn eine erste Massenverkostung von Dahlien durchführten (mit über 20 Sorten und mit mehr als 10 ‘Essern’), da war das für alle Beteiligten harte Arbeit, leicht gemildert nur durch das nachfolgende Steak mit Bier. Zu relativ waren die Ergebnisse. Zwar gab es phantastische Geschmacksvarianten, aber sie wurden von den viel zu intensiv und manchmal auch richtiggehend schrecklich schmeckenden Sorten überlagert. Hätte man da jemanden (ausser mich) gefragt, ob er wieder einmal Delidahlien essen würde … ich glaube die Reaktion wäre nicht sehr positiv gewesen (ich hütete mich denn auch, diese Frage zu stellen).
Dann aber kamen die nächsten Essrunden in der Schweiz, mit weniger Sorten, unterdessen auch besser gekocht im Dampfkochtopf, vielfach auch eine Auswahl der in Bad Zwischenahn schon erkorenen Favoriten (die Resultate in Bad Zwischenahn waren bei einigen Sorten wie z.B. Hoamatland sehr eindeutig) und da wurde das Gesamtbild, der Gesamteindruck schon sehr viel positiver: Da war nicht mehr die unüberblickbare Masse der naturgemäss eben nicht so gut schmeckenden Sorten – immerhin waren Dahlien mindestens 500 Jahre lang nicht mehr auf ihren Knollengeschmack selektioniert worden. Da war auch Zeit für Genuss, fürs Hineinhorchen in sich und in die Dahlien, da war es plötzlich: Das Erlebnis Delidahlien!
Der Unterschied in all diesen Beispielen ist ganz einfach der Unterschied zwischen ‘besser’ und ‘gut’, zwischen einem immer relativen Urteil und einem wirklichen und positiven Erlebnis. Und zu einem solchen Erlebnis braucht es wohl immer etwas Zeit (Musse) und Beschränkung (weniger ist mehr).
Videos zur Degustation von Dahlienknollen: