Das könnte zum Beispiel eine gemütliche Plauderei über ?Für und Wider? des einen oder anderen Schnittes sein. Unter Profis oder ambitionierten Amateuren wird das aber sehr schnell zu einer regelrechten Glaubensdiskussion. Wer passionierten Obstbauern schon bei unfreundlichster Witterung vor dem Baum zugehört hat, wie sie die kleinsten Schnitte mit Strategien und Absichten unterlegen, wie das eine falsch, das andere aber auch noch nicht ganz richtig sei, wie von Sorte zu Sorte der Schnitt eines Apfelbaums variieren müsse, der wird auch die Theologen besser verstehen. Hier wie dort gibt es Schulen und Lehrmeinungen, es gibt Häretiker, einsame Rufer in der Wüste und es gibt sogar immer mal wieder Evangelisten, Propheten einer neuern Glaubens- oder Schnittart.
Aber soll man dem Propheten, diesem oder jenem, auch alles glauben? Nun, von der Theologie verstehe ich viel zu wenig. Aber beim Baumschnitt, ja, da habe ich schon die Erfahrung gemacht, dass man einen einmal eingeschlagenen Weg auch konsequent zu Ende gehen soll. Als ich in den späten 80er Jahren im Obstbau arbeitete ,da war mein Schnittlehrmeister Christian Krebs, der Betriebsleiter eines Versuchsbetriebs auf der Schweizer Seite des Bodensees. Von ihm lernte ich einen sehr systematischen, starken Schnitt, der die Bäume sozusagen in ein System zwang, ohne allzu sehr auf ihre Individualität einzugehen. Und der Schnitt funktionierte. Obwohl gerade eben von Germanistik auf Obstbau umgestiegen, konnte ich schon im ersten Winter gemeinsam mit einem Lehrling den ganzen ca. 10 ha umfassenden Betrieb alleine durchschneiden. Und der Betrieb sah im nächsten Jahr genauso gut aus wie letztes Jahr. Und ja, es gab auch wieder genug Früchte. Weil ein System konsequent umgesetzt wurde.
Gegenüber der Theologie hat der Obstbau und der Obstbaumschnitt einen entscheidenden Vorteil: Man sieht direkt, bereits in der nachfolgenden Vegetationsperiode, die Reaktion. Es gibt einen Schiedsrichter, der sofort und deutlich sein Urteil spricht: Und dieser Schiedsrichter ist der Baum. Vielleicht ist das auch ein entscheidender und entspannender Hinweis für den Schnitt im Garten: Was so endgültig scheint (der Schnitt), ist nur eine Minute in 365 Tagen. Der Baum, die Pflanze lebt weiter. Und sie wird dir ganz schnell und deutlich zeigen, welcher Schnitt welche Auswirkungen hat. Und dann kann ich ja nächstes Jahr, im nächsten Frühjahr meinerseits wieder reagieren. Da wir die Theologie, die Lehre zum Dialog. Für diesen Dialog mit individuellen Pflanzen hat der Hobbygärtner Zeit, sollte er sich die Zeit nehmen; der Obstbauer, der eine Obstbaum-Maschine bedient, baucht ein System.
Interessanterweise gibt es auch bei verschiedenen Berufsgruppen deutliche Unterschiede im Schnittstil. Ich erinnere mich da an Karl, Stadtgärtner in Altstätten und ein Freund meines Vaters. Sie kannten sich seit Urzeiten, Karl hatte seine Gärtnerlehre in der gleichen kleinen Gärtnerei gemacht, in der auch mein Grossvater arbeitete. Karl kam jedes Jahr, er kam und schnitt. Das ?Sehen? liess er aus – oder es war bei seiner Geschwindigkeit kaum zu erkennen.
Karl kam meist am Feierabend, kurz vor dem Eindunkeln, und wenn es dann Nacht wurde, dann war der grosse alte Boskoop Baum vor meinem Elternhaus fix und fertig geschnitten. Unsere Arbeit aber, die Schnittresten wegzuräumen, würde morgen beginnen … Und wie Karl jeweils geschnitten hatte! Er war mit seiner Schere wie mit einer Rasierklinge über die alten und starken Boskoop-Äste gefahren, hatte alle wasserschossverdächtigen Triebe entfernt, ohne Erbarmen. Und der Baum, der sah jetzt, in der Dämmerung, in seiner Struktur auf das Wesentliche reduziert, wunderbar schön aus. Ein bäumiger Baum.
Die Reaktion des Baums würde zwar nicht lange auf sich warten lassen. Aber das war ja dann erst im Frühjahr. Und Karl würde auch im nächsten Jahr kurz vor der Dämmerung wieder kommen und blitzschnell den alten Boskoop und seine Struwwelpetertriebe in die engen gärtnerischen Schranken weisen.
Karls Schnitt würde ich heute verallgemeinernd als ?Gartenbauer?-Schnitt bezeichnen. Dieser ist vor allem an der Ästhetik und etwas weniger am Ertrag interessiert. Er liefert dem Kunden hier und jetzt ein schönes Resultat, einen schönen Baum - und sich selber einen guten Grund, nächstes Jahr wieder zu kommen. Ob die Gartenbauer alle so schnell sind wie weiland Karl? Jedenfalls wurde Karl eben nicht pro Stunde bezahlt, sondern mit Gegenleistungen. Wenn er uns den Baum schnitt, so installierte mein Vater, der Elektriker war, vielleicht ein Kabel bei Karl. Die Gefährlichkeit der Elektrikerarbeit und diejenige der Schnittarbeit hielten sich übrigens die Waage: Ich erinnere mich vage, dass Karl, ein drahtiger, eher kleiner Mann, auf meinem Kletterbaum so herumturnte, wie ich es nie gewagt hätte. ?Von der Leiter gefallen, vom Baum gefallen? galt noch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts als typische Berufskrankheit von Obstbauern und Gärtnern.
Aber auch heute ist das Schneiden nicht ?ohne?. Jedenfalls nicht ohne Gefahr und manchmal auch Schmerzen. Das Karpaltunnelsyndrom ist bei Schnittarbeitern und Schnittarbeiterinnen weitverbreitet, bei den Frauen stärker als bei Männern. Gerade hat sich eine Mitarbeiterin die zweite Hand operieren lassen, so dass nun die Schmerzen beim Schneiden, das nächtliche Einschlafen nachhaltig beseitigt sein sollten. Schon als ich in den 80er Jahren meinen ersten Obstbaujob antreten sollte, musste ich vorgängig zur Anstellung zu einer ärztlichen Untersuchung antreten. Der gute Arzt interessiert sich allerdings ausschliesslich für meine Handgelenke, die er intensiv studierte und für gut genug befand. Und so hatte ich den Job und die Lizenz zum Schneiden.
Der Arzt hatte aber nicht mit meiner Unerfahrenheit gerechnet. Es war just der kälteste Winter der 80er Jahre. Und ich hatte einen ganzen Betreib zu schneiden. Ich wollte unbedingt zu einem Ende kommen. Und so ging ich jeden Tag mit dem Lehrling raus, auch bei extremen Minustemperaturen, mindestens einige Stunden pro Tag. Ich schnitt zwar mit Handschuhen, schnippschnapp, schnippschnapp. Ich spürte nichts, wir freuten uns schon auf den Glühwein, den wir uns nach jedem Outddooreinsatz gönnten. Ab diesem Frühjahr aber hatte ich für die nächsten 10 Jahre jeden Morgen mit steifen Händen zu kämpfen. Mangelnde Durchblutung, Folgen von Erfrierungserscheinungen, die aber mit einer allmorgendlichen Massage und mit einer Durchblutungscreme behoben werden konnten.
Aber nicht, dass Sie meinen Schnitt Schnack jetzt als Vorwand zum Nicht-Schneiden missbrauchen wollen! Dafür ist das Wetter jetzt viel zu gut und viel zu mild. Also raus aus der guten Stube, raus mit der Schere, und ran an den Baum!