Und wie wenn das alles noch nicht genug wäre, gibt es nochmals von einem "Fehler" der Natur zu berichten. Plötzlich, irgendwann, aus einer unerklärlichen Laune heraus, als Mutation, entstehen die Kulturfeigen.
Wohl wieder ein Kopierfehler, eine gametische Mutation in den Keimzellen der Feigenblüten. Und was entsteht? Eine Feige, die – auf den ersten Blick wider alle Natur – auch ohne Befruchtung parthenokarpe Früchte ansetzen kann. Also die kleinen Feigen, deren weibliche Blüten wie bei den Smyrna-Feigen vollentwickelt und empfangsfähig sind, bleiben ohne Befruchtung nicht mehr einfach stehen (um dann irgendwann abzufallen und zu verschrumpeln), sondern entwickeln sich nach einer kurzen Kunstpause aus eigenem Antrieb weiter. Meistens wenigstens. Warum ich diesen "Kopierfehler" hier demonstrativ Kulturfeige nenne?
Nun weil da ohne Kultur, ohne den Eingriff des Menschen eigentlich gar nichts mehr geht: Nicht nur produzieren diese Feigen keine fruchtbaren Samen mehr und sind damit auf die vegetative Vermehrung durch den Menschen (Wurzelschosse, Ableger, Steckhölzer, Veredelung) angewiesen, sondern die möglichst zuverlässige Form der Parthenokarpie, die unsere heutigen Kultursorten auszeichnet, ist einzig und allein aufgrund menschlicher Auslese entstanden. Der Gärtner-Mensch hat halt nur diejenigen Kulturfeigen weitervermehrt, die zuverlässig möglichst schmackhafte Früchte trugen und die möglichst ganz auf die fragwürdige und aufwändige Mitarbeit der Feigenwespen verzichten konnten.
Dass das alles ein langer, einerseits biologisch-evolutionär gesteuerter, andererseits aber auch kulturell gesteuerter Prozess war, zeigt die Übergangsform der San Pedro-Feigen: Diese tragen mehr oder weniger zuverlässig eine erste Ernte parthenokarper, unbefruchteter Früchte, sind aber bei der zweiten Ernte, bei der Haupternte im Herbst auf die Caprifikation angewiesen.
Die Kulturfeigen dagegen, die wir auch im nördlichen Mittelmeerraum und nördlich der Alpen anbauen können, kommen bei beiden Ernten ohne Wespe aus (wenn denn die Vegetationsperiode eine zweite Ernte zulässt). Die drei Ernten des Zweistromlands und Arabiens, die noch die Urfeige auszeichneten, sind in weiten Teilen des Mittelmeerraums und Mitteleuropas natürlich nicht mehr möglich. Schon zwei Ernten, ganz knapp in die Vegetationsperiode von März bis Oktober/November reingepresst, sind hier schon ein riesiger Erfolg.
Markus Kobelt
Weitere spannende Feigen-Geschichten finden Sie hier:
Die Geschichte und Biologie der Feige, Teil 1
Die Geschichte und Biologie der Feige: Die Ur-Feige, Teil 2
Die Geschichte und Biologie der Feige: Auftritt Feigenwespe, Teil 3
Die Geschichte und Biologie der Feige: Die Smyrna-Fruchtfeige, Teil 4
Die Geschichte und Biologie der Feige: Die Caprifikation, Teil 5
Die Geschichte und Biologie der Feige: Der Mensch als Feigensklave, Teil 7
Wer’s lieber etwas sachlich und botanisch haben möchte, der kann sich noch meinen Beitrag zu den verschiedenen Feigentypen anschauen. Der erklärt schon vieles. Aber halt eben nicht alles.
Ganz kurz und knapp habe ich das Thema “Wie und wo Feigen blühen und befruchtet werden", in meinem Facebook Live-Video geschildert (speziell über die Feigen geht es ab der 28. Minute):
Meine Quelle: Ira J. Condit, The Fig, Boston USA 1947
Ein großes Sortiment an Feigenbäumen finden Sie zudem im Lubera Gartenshop.