Wespenmissbrauch oder Menschenverführung? Das kann eigentlich nicht lange gutgehen. So blöd kann ja auch eine noch so kleine Wespe gar nicht sein, dass sie sich laufend austricksen lässt: Fast unentgeltlich für die Feigen zu arbeiten, ohne für die eigene Fortpflanzung sorgen zu können. Und wenn’s die einzelne Wespe ja auch nie lernen kann (weil sie unverrichteter Dinge und ohne Nachkommen stirbt), so würden -so denkt man wenigstens – doch nach und nach die Wespen aussterben, die so blöd sind, die Smyrna Feigen mit ihren unwirtlich langen Blüten aufzusuchen.
Auch die Genetik würde eher gegen diese ersten Fruchtfeigen sprechen: Die Eigenschaft der langen Blüten ist rezessiv. Und neue grosse Smyrna-Fruchtfeigen können nur entstehen, wenn der Pollen einer Bocksfeige, die ebenfalls rezessiv versteckt (also nicht sichtbar) die Eigenschaft der langen Blüten in sich trägt, eine Smyrna-Fruchtfeige erreicht. Also ziemlich selten. Warum dann die Smyrna-Feigen nicht ausgestorben sind, sondern sich aus Jemen wie ein Lauffeuer über Mesopotamien im ganzen Mittelmeerraum verbreitet haben?
Schuld daran kann nur die Frucht sein, die Feige selber, sie ist einfach zu attraktiv. Mit ihrer Schönheit und vor allem mit ihrem Zucker manipuliert sie alle und alles um sich herum. Wenn sie befruchtet wird, also wenn sich mal wieder einmal eine dumme Feigengenwespe in die Smyrna-Fruchtfeige verirrt hat, dann werden die entstehenden fertilen Samen von all den fressenden Tieren, und irgendwann auch vom essenden Menschen, fröhlich verbreitet, wie eine gute Botschaft: So gut kann eine Feige sein, hoffen wir, dass uns auch die Samen wieder, nach dem Durchgang durch den Verdauungstakt, einige grossfrüchtigen Feigenexemplare bescheren mögen.
Und irgendwann wird das Tier, das wir Mensch nennen, erkannt haben, dass Smyrna-Fruchtfeigen und Bocksfeigen mit Vorteil gemischt werden, wenn man eine gute Ernte erzielen möchte. Und irgendwann werden sie auch per Zufall oder mit Versuch und Irrtum gelernt haben, dass man die reifen Bocksfeigen mit den herangereiften, aber noch nicht ausgeflogenen Wespen auch künstlich zu einem Fruchtfeigenbaum, oder zu einem ganzen Feld von Fruchtfeigen bringen könnte.
Später – nach vielen Irrwegen und Irrtümern – eigentlich erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts – wurde das von der gerade entstehenden Agronomie als Caprifikation beschrieben. Die Caprifikation hat auch den Vorteil, dass die – wieder einmal ausgetricksten – Feigenwespen gar keine andere Wahl haben, als die für sie selber so unproduktiven Fruchtfeigen aufzusuchen und zu befruchten. Eindeutig ein Missbrauch der Natur, mindestens der armen Wespen – wenn man so will. Aber im Krieg, in der Liebe und ganze nahe verwandt auch beim Essen, ist fast alles erlaubt. Denken wir es noch einmal durch: Ist es nun der Mensch als selbsternannter Mittelpunkt der Erde, der die Wespen für die Befruchtung seiner Lieblingsfrüchte missbraucht, oder ist es nicht viel eher die Feige, die alle Kreatur nach ihrer Pfeife tanzen lässt. Willensstark und mit langem Atem stellt die Feige Menschen und Wespen in den Dienst ihrer ureigenen Sache: möglichst zuverlässig und mit Lustgewinn befruchtet, und dann auch noch vermehrt und weiter verbreitet zu werden.
Markus Kobelt
Weitere spannende Feigen-Geschichten finden Sie hier:
Die Geschichte und Biologie der Feige, Teil 1
Die Geschichte und Biologie der Feige: Die Ur-Feige, Teil 2
Die Geschichte und Biologie der Feige: Auftritt Feigenwespe, Teil 3
Die Geschichte und Biologie der Feige: Die Smyrna-Fruchtfeige, Teil 4
Die Geschichte und Biologie der Feige: Die Kulturfeige, Teil 6
Die Geschichte und Biologie der Feige: Der Mensch als Feigensklave, Teil 7
Wer’s lieber etwas sachlich und botanisch haben möchte, der kann sich noch meinen Beitrag zu den verschiedenen Feigentypen anschauen. Der erklärt schon vieles. Aber halt eben nicht alles.
Ganz kurz und knapp habe ich das Thema “Wie und wo Feigen blühen und befruchtet werden”, in meinem Facebook Live-Video geschildert (speziell über die Feigen geht es ab der 28. Minute):
Meine Quelle: Ira J. Condit, The Fig, Boston USA 1947
Alle Illustrationen in diesem Artikel stammen aus Ira J. Condits grossem Feigenbuch.
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