Die Biologie der Feige gehörte zu jenen Dingen in der Natur, von denen man nicht recht weiss, wie man sie erzählen, begreifen und verstehen soll. Zu kompliziert, zu verschachtelt, und immer wieder unverständliche Lücken oder Sprünge. Manchmal hilft da die Logik der Evolution, aber nicht immer. Natürlich könnte man die Feige selber fragen. "Geht das denn?", fragen Sie einigermassen erstaunt? JA, genau das habe ich getan – und so versuche ich jetzt die Geschichte der Feige ein bisschen auch aus ihrer eigenen Perspektive heraus zu erzählen. Denn wer könnte mehr darüber wissen?
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Die Blüte, die man nicht sieht – und die Frucht
Die Feige ist keine eigentliche Frucht, sondern allerhöchstens eine Sammelfrucht. Das, was wir als Schale, als Fruchtschale wahrnehmen, ist nichts anders als der Blütenboden. Kein Wunder, dass viele Feigengeniesser auf ein solch fruchtfremdes Organ gerne verzichten und nur das innere Fruchtfleisch ausessen.
Fruchtfleisch? Eigentlich besteht das Fruchtfleisch aus nichts anderem als Blüten und den daraus entstehenden Einzelfrüchten, die auf dem Blütenboden stehen. Dieser hat sich zusammengefaltet, ist zu einer rundlichen Form zusammen gewachsen, und so stehen jetzt im Inneren dieser Hülle alle Blüten gegen innen, zur Mitte ausgerichtet, wie die Speichen eines Wagenrads oder eher noch – wir bewegen uns ja in der Dimension des Raums – wie die Radien einer Kugel.
Ganz oben, dem Fruchtstiel entgegengesetzt, ist vielfach noch eine kleine Öffnung geblieben, die sogenannte Ostiole, ein kleiner Durchlass nach draussen und nach drinnen, sozusagen als Erinnerung an die entfernt vergangenen Zeiten, als die Blüten noch mehr Freigang hatten und im Freien aufblühen durften. Ja, das ist auch die Auflösung des Rätsels der Feigenblüte, die man nie sieht: Es gibt sie zwar, aber sie findet unter Ausschluss der Öffentlichkeit in der sich entwickelnden Frucht statt. Oder formulieren wir es botanisch korrekter: Die Blüten «entfalten» sich im Inneren des Blütenbodens, der sich vor Urzeiten schon zu einer Art Fruchtkörper zusammengefaltet hat.
Warum das so ist, so sein muss? Wir sind da auf Vermutungen, sozusagen auf Tipps aus der Perspektive der Feige selber angewiesen: Es könnte ja sein, dass damit die für die Fortpflanzung so entscheidenden Blüten besser vor den Unbilden der Natur, vor Sonne und Regen, vor Hitze und Frassfeinden, geschützt waren. Die junge Feige, die noch keine Frucht, sondern nur eine umhüllte Blütenansammlung ist, wirkt wirklich sehr unscheinbar und wird bei nichts und niemandem Begehrlichkeiten wecken. Und die attraktive, manchmal vor süssem Saft tropfende reife Feigenfrucht will dann ja gegessen und mit ihren Samen verbreitet werden. Ja, man könnte meinen, die Feige hätte an gar alles gedacht ? Nein, ich bin sicher, dass sie wirklich an alles gedacht hat!
Markus Kobelt
Lesen Sie die spannende Geschichte der Feige , von mir und von ihr (ja von der Feige selber!) erzählt, weiter:
Die Geschichte und Biologie der Feige: Die Ur-Feige, Teil 2
Die Geschichte und Biologie der Feige: Auftritt Feigenwespe, Teil 3
Die Geschichte und Biologie der Feige: Die Smyrna-Fruchtfeige, Teil 4
Die Geschichte und Biologie der Feige: Die Caprifikation, Teil 5
Die Geschichte und Biologie der Feige: Die Kulturfeige, Teil 6
Die Geschichte und Biologie der Feige: Der Mensch als Feigensklave, Teil 7
Wer’s lieber etwas sachlich und botanisch haben möchte, der kann sich noch meinen Beitrag zu den verschiedenen Feigentypen anschauen. Der erklärt schon vieles. Aber halt eben nicht alles.
Ganz kurz und knapp habe ich das Thema “Wie und wo Feigen blühen und befruchtet werden”, in meinem Facebook Live-Video geschildert (speziell über die Feigen geht es ab der 28. Minute):
Meine Quelle: Ira J. Condit, The Fig, Boston USA 1947
Alle Illustrationen in diesem Artikel stammen aus Ira J. Condits grossem Feigenbuch.