Wir haben bei Lubera seit der Gründung vor 30 Jahren in unserer Pflanzenzüchtung über 130 essbare Pflanzen gezüchtet und auf den Markt gebracht. Dabei züchten wir bewusst vornehmlich für den Garten und natürlich auch für den Anbau von essbaren Pflanzen auf Balkon und Terrasse. Aber warum konzentrieren wir uns auf den Garten, anstatt schnell den viel grösseren Markt der Landwirtschaft zu suchen? Und warum braucht es neue Sorten, wenn es doch Abertausende von alten gibt? Und noch genereller: Warum braucht es überhaupt neue Sorten? Wie funktioniert Züchtung eigentlich? Wie kommt es, dass schlussendlich aus allen Samen identische Pflanzen entstehen? Das sind die Fragen, die ich in diesem Beitrag beantworten möchte. Und zum Schluss schildere ich noch, wie wir konkret bei der Tomatenzüchtung vorgehen. Damit verlängern wir den Blick auf den Gemüsegarten sozusagen nach hinten. In unserem Gartenshop kannst du aus unserem riesigen Sortiment deine Lieblings-Pflanzen kaufen.
Inhaltsverzeichnis
- Warum Pflanzenzüchtung, warum neue Sorten?
- Warum Pflanzenzüchtung für den Garten?
- Die wichtigsten Ziele bei der Pflanzenzüchtung für den Garten
- Die Sache mit den "alten" Sorten
- Alles auf Anfang: Die Pflanzenwelt als Basis des Lebens und die Evolution
- Domestikation – Der Auftritt des Menschen
- Der Mensch dominiert, verändert und beschleunigt (ja natürlich zerstört er auch)
- Die Aufgabe der Pflanzenzüchtung
- Anpassung an die menschlichen Bedürfnisse
- Methoden der Pflanzenzüchtung - ein Wort zur Gentechnik und zu neuen Züchtungstechniken
Warum Pflanzenzüchtung, warum neue Sorten?
Die erste, oberflächliche Antwort lautet: Weil es spannend ist, weil es Spass macht, weil in unserer Gesellschaft "Neu" und neue Produkte einen Bonus geniessen (den sie manchmal verdienen, manchmal auch nicht…), und selbstverständlich, weil sich damit Lubera von anderen Pflanzenanbietern unterscheiden kann. Alle diese Antworten sind nicht falsch, aber sie kratzen nur leicht an der Oberfläche. Lubera KANN als Firma Pflanzen züchten, und das dient sicher auch den oben erwähnten geschäftlichen Zielen. Aber wir als Menschen MÜSSEN neue Pflanzen züchten, um diese unseren Bedürfnissen, unserem Hunger, aber auch den immer wieder neuen, weitgehend menschengemachten Rahmenbedingungen anzupassen. Das tönt jetzt etwas gar pathetisch, aber ich versuche dieses MUSS der Pflanzenzüchtung im Folgenden etwas näher zu beschreiben und zu begründen.
Warum Pflanzenzüchtung für den Garten?
Bei Lubera züchten wir zuallererst neue essbare Pflanzen für den Garten, genauer für den mitteleuropäischen Hausgarten. Das ist nicht "normal", das ist eine Ausnahme. Die meisten Züchtungsunternehmen züchten direkt für den Erwerbsanbau, für die industrielle Landwirtschaft. Dass wir uns den Hausgartenmarkt ausgesucht haben, hat natürlich auch ganz pragmatische Gründe: Gegen die grossen vier oder fünf Konzerne in der Pflanzenzüchtung kommen wir in keinem Fall an, mit ihnen wollen und können wir als Kleinbetrieb nicht konkurrieren. Aber mit der Konzentration auf den Gartenmarkt befreien wir die Züchtung von den eisernen Fesseln, die ihre Kreativität und längerfristig auch ihre Ziele bedroht: Wer für die industrielle Landwirtschaft züchtet, konzentriert sich auf die wichtigsten Kulturpflanzen. Er denkt gar nicht daran, jedes unglaublich grosse Potential anzuzapfen, das in den 99% essbaren Pflanzen liegt, die nie oder fast nie züchterisch bearbeitet worden sind. Weltweit gibt es mindestens 250.000 verschiedene Pflanzenarten. Schätzungen gehen von 40.000 bis 120.000 Arten an essbaren Pflanzen aus. Von diesen Arten werden und wurden ca. 7.000 Arten als Kulturpflanzen in Gärten und auf Feldern angebaut. Jedoch gibt es nennenswerte Züchtungsanstrengungen für gerade einmal 100 bis 150 dieser 7.000 Kulturarten. In Wirklichkeit ist dies jedoch wieder nur die Spitze des Eisbergs, denn nur 15 Pflanzenarten liefern 95% unserer Nahrungsenergie und auch 90% aller Züchtungsanstrengungen betreffen diese wenigen Arten. Wir denken, dass wir es uns längerfristig gar nicht leisten können, das Potential an stiefmütterlich bis ignorant behandelten Kulturpflanzen oder Kulturpflanzenkandidaten zu entwickeln.
Ein weiterer einschränkender Faktor bei der industriellen Pflanzenzüchtung ist die Konzentration auf die industrielle Verwertungskette der Lebensmittel. Diese Rahmenbedingungen werden einfach als gegeben hingenommen und schränken die Kreativität der Züchtung weiter ein: Früchte und Gemüse müssen leicht pflückbar, möglichst ewig lagerfähig sein. Sie müssen, wenn immer möglich mithilfe von Maschinen, bald auch von Ernterobotern geerntet und verarbeitet werden können. Und notfalls ist es wichtiger, dass sie resistent gegen Unkrautherbizide sind als dass sie schmecken.
Die industrielle Ausrichtung der Landwirtschaft, der Lebensmittelindustrie und folglich auch der Pflanzenzüchtung ist sicher ein Hauptgrund, dass auch über 170 Jahre nach dem Auftauchen der Krautfäule bei den Kartoffeln noch immer fast keine resistenten Sorten auf dem Markt sind. Es kann ja gespritzt werden. Die duale Strategie der Agrokonzerne, die immer erzählen, dass sie ganzheitliche Lösungen anbieten, also die richtigen Sorten und gleich dazu auch noch den passenden Pflanzenschutz spricht Bände. Zum guten Glück findet auch in der industriellen Züchtung ein Umdenken statt, weil der Pflanzenschutz immer stärker regulatorisch eingeschränkt wird, aber es geht alles in allem verdammt langsam.
Bild: Die Blaubeere 'Blautropf' ist ein Lubera®-Original mit tropfförmigen Beeren, die einen säuerlichen, aber auch erfrischenden, Geschmack haben.
Die wichtigsten Ziele bei der Pflanzenzüchtung für den Garten
Bei uns geht es vergleichsweise schnell. Eine holländische Praktikantin in unserer Züchtungsabteilung sagte kürzlich zu mir: "Ich verstehe die Welt nicht mehr. Unsere Professoren impfen uns immer wieder ein, wie kompliziert Züchtung sei. Du aber sagt mir jeden zweiten Tag, dass Züchtung eigentlich ganz einfach ist." Wenn ich erzähle, dass wir in 30 Jahren als Kleinfirma 130 neue essbare Sorten gezüchtet haben, ernte ich häufig ein mitleidiges, manchmal auch süffisantes Lächeln. Und ich höre geradewegs den Gedanken meines Gegenübers: Das ist ja gar nicht möglich, das ist doch unseriös… Unsere Züchtungsproduktivität hat aber mit unserer Konzentration auf den Gartenmarkt zu tun und mit der konsequenten Ausrichtung auf die drei wichtigsten Züchtungsziele:
- Resistenz: Es gibt bei unseren aktuell ca. 20 kleineren und grösseren Züchtungsprojekten kein einziges, das nicht die Resistenz oder grössere Toleranz gegenüber Krankheiten (und etwas seltener auch gegen Schädlinge) als Hauptziel verfolgt. Unsere neuen Kartoffelsorten und Tomatensorten sind resistent oder hochtolerant wie die berüchtigte Kraut- und Knollenfäule. Die Phytophthora greift nämlich gleichermassen beide verwandten Pflanzenarten an. Tomaten und Kartoffeln gehören zu den Solanaceae, zu den Nachtschattengewächsen. So können Tomaten plötzlich auch problemlos im Freiland ohne Witterungsschutz angebaut werden. Eigentlich ist der Grund für die Resistenzzüchtung ebenso banal wie selbstverständlich: Niemand will in seinem Garten kranke Pflanzen, niemand will chemischen Pflanzenschutz in seinem grünen Lebensraum anwenden. Und dennoch möchten Hobbygärtner äusserst ungern auf die Früchte ihrer Gartenarbeit verzichten. Eigentlich ist ihre Bindung zur Pflanze enger als in der Landwirtschaft; der Gärtner, die Gärtnerin leiden mit, wenn ihre Pflanzen leiden. Dabei unterschätzen sie manchmal auch die natürliche Resilienz von Pflanzen, und greifen dann doch zu Notmassnahmen.
- Geschmack: Was ich in meinem Garten anbaue, was ich dann vom Beet direkt in meine Küche und auf den Teller bringe, muss schmecken. Man kann das sogar noch ausweiten: Meine Gartenfrüchte und mein Gartengemüse können auch ganz anders, diverser schmecken als die industriellen Sorten, weil im Garten mehr Diversität möglich ist, mehr Unterschiede. Wir müssen in der Pflanzenzüchtung für den Garten nicht den Durchschnittsgeschmack bedienen, sondern können über die Sortenvielfalt auch in die Breite gehen. In der Hausgartenzüchtung finden wir säuerliche Kartoffeln, die einen Kartoffelsalat noch viel erfrischender machen können. Und Süsskartoffeln sollen nicht nur für die Verwendung als Pommes frites ausgelesen werden, sondern vor allem auch wegen ihrem speziellen Eigengeschmack, der nicht nur süss sein kann, sondern Aromen von Maronen und Kürbissen transportiert.
- Einfachheit der Kultur: Hobbygärtner arbeiten gerne und viel im Garten. Aber sie sind auch dankbar dafür, wenn Pflanzen möglichst einfach angebaut werden können. Es reicht schon, dass wir Handbücher für Haushaltsgeräte und Autos und Computer stirnrunzelnd durchlesen müssen – bei Pflanzen ist das eher unerwünscht. Und wenn dann einmal mit einer Pflanze ein Einfachheitsdurchbruch gelingt, dann ist der Erfolg der Sorte gewiss. Wir denken, dass einige der Ewigen Gemüsesorten in diese Kategorie gehören: Es ist einfach einfacher, nur einmal zu pflanzen und danach viele Jahre zu ernten, anstatt jedes Jahr neue Setzlinge zu kaufen. Oder nehmen wir die neue Gartenrasse der Surprise Chili als Beispiel: Sie wachsen problemlos im Freiland und in unserem Klima, sie werden früh reif, brauchen auch keine Unterstützung mit Gerüsten und Stäben. Einfach pflanzen und ernten…
Kaum jemand würde jetzt behaupten, dass diese Hauptziele für die industrielle Landwirtschaft nicht auch wichtig wären, aber sie werden halt eindeutig überlagert von den Anforderungen der Industrie und der Verwertungskette. Industrielle Gemüsesorten müssen lange vor der physiologischen Reife (und der maximalen Geschmacksentwicklung) geerntet werden können, sie ertragen auch einen langen Transport und liegen dann noch Tage glänzend und vermeintlich frisch, eingepackt in Plastikfolie auf den Regalen des Supermarkts…
Bild: Die rote Johannisbeere Ribest® Lisette® hat kompakte und grosse Trauben, die du zahlreich ernten kannst.
Gerade darum sagen wir auch gerne, dass der Hausgarten ein Zukunftslabor für die Landwirtschaft darstellt: Die hier entwickelten Sorten, aber auch ganz neue oder vergessene Kulturpflanzen, die für den Garten entdeckt oder wiederentdeckt werden, können vielleicht irgendwann in einer zukünftigen Landwirtschaft eine wichtigere Rolle spielen. In diesem Buch erwähnen wir zum Beispiel die Knollige Blatterbse (Lathyrus tuberosus), deren Knollen und Ernährungswerte aktuell fast unbekannt ist. Weil wir den nahen Garten unserer Direktkunden jeden Tag vor Augen und im Sinn haben, können wir uns leisten, auch solche auf den ersten Blick exotischen oder abwegigen Züchtungsiden zu verfolgen. Wenn wir dann eines Tages ein Züchtungsresultat haben, das mindestens zwei unserer drei Hauptziele weitgehend erreicht, dann sind die ersten Kunden nur einen Klick entfernt.
Die Sache mit den "alten" Sorten
Alt gleich gut? Die Mär von den guten alten Pflanzen ist fast nicht aus den Köpfen zu bringen. Dabei gibt es viele Gründe, warum alte Pflanzen verschwinden. Der häufigste ist: Sie werden von robusteren und gesünderen, besser schmeckenden oder sonst wie vorteilhafteren neuen Sorten abgelöst.
Die letzten 30 Jahren waren bei vielen Kulturpflanzen und in vielen Regionen der Welt das Zeitalter der alten Sorten. Alt ist gut, und immer förderungswürdig. Wahrscheinlich weil man es letztlich schon kennt und nicht mit unliebsamen Überraschungen rechnen muss. In der Schweiz wurden zum Beispiel mit Staatsgeldern alte Stachelbeersorten gesammelt, die mit zwei oder drei Ausnahmen alle wegen der starken Mehltauanfälligkeit gar nicht mehr angebaut werden können. Dabei werden wir Stachelbeeren in Zukunft überhaupt nicht mehr anbauen können, wenn wir keine Sorten züchten, die den heisseren Klimabedingungen angepasst sind und eine Resistenz gegen den amerikanischen Stachelbeermehltau zeigen.
Ein schönes Bild für den wissenschaftlichen und auch züchterischen Fortschritt ist das Bild vom Riesen (= der Tradition, der Vergangenheit und ihren Errungenschaften), auf dessen Schultern wir sitzen. Auf dieser Basis versuchen wir, noch ein bisschen weiter nach oben zu kommen und auch etwas weiter zu sehen…. Selbstverständlich benutzen wir alte Sorten, um neue zu züchten, die besser den aktuellen Anforderungen und Rahmenbedingungen angepasst sind. Wir brauchen also den Riesen, aber es reicht nicht, aus seinem Bauchladen alte Sorten zu nehmen und zu rezyklieren. Das kann allerhöchstens ein Anfang sein, um neue bessere Sorten zu züchten. Ein Beispiel sind die Ewigen Kohl- oder Baumkohlsorten, die wir aktuell verkaufen. Es sind alte traditionelle Sorten. Aber mit ihrer Hilfe haben wir ein Züchtungsprogramm initiiert, das sie winterhärter, ertragreicher und schmackhafter machen sollen. Ach ja, und diese alten Baumkohle lieben unsere immer heisser werdenden Sommer gar nicht, müssen deshalb, wenn möglich immer in den Halbschatten gepflanzt werden. Selbstverständlich geht es auch immer darum, die Kulturpflanzen für das sich rasend schnell verändernde Klima fit zu machen.
Dennoch: Die Zeit und die historische Menge der Pflanzenindividuen produzieren immer wieder Mutationen, genetische Variationen, die dann in alten Sorten sozusagen "überwintern". So uninteressant es ist, von der direkten Vermarktung und auch Einzüchtung alter Sorten einen Boost für den modernen Anbau im Garten zu erwarten, so kann es immer mal wieder spannend sein, einzelne in alten Sorten konservierte Eigenschaften aufzugreifen und für die Pflanzenzüchtung zu benutzen. Und manchmal (aber zugegebenermassen auf Grund der grossen Anstrengung relativ selten) klettern wir sogar ganz vom Riesen herunter und suchen in der Natur, am besten in den Ursprungsgebieten von essbaren Pflanzenarten nach "wilden" Kulturpflanzenvorfahren, die vielleicht Eigenschaften in sich tragen, die für uns interessant sein könnten. Einen Teil der Ausgangspflanzen für unser Abenteuerreise in die noch völlig unbekannte Zukunft der Knolligen Platterbse hat unser Züchter Raphael Maier auf Velotouren und Spaziergängen gesammelt. Vielleicht hat er sich ja dabei vom Herumklettern auf dem "Riesen" erholt…
Bild: Erdbeere Frutium® Bonneure® trägt extrem grosse Früchte, die komplett rot gefärbt sind.
Alles auf Anfang: Die Pflanzenwelt als Basis des Lebens und die Evolution
82% des Lebens auf diesem Planeten sind Pflanzen, den Rest teilen sich dann die Tiere inklusive Mensch (0.35%), Bakterien (13%), Pilze und Mikroorganismen (ca. 4%). Als Menschen haben wir gelernt, uns als die Krone der Schöpfung zu sehen, in Tat und Wahrheit gehören wir als kleine Untergruppe zu den Tieren und werden von der Mehrheit der Pflanzen beherrscht. So ganz stimmt das nicht, aber zumindest hilft es, unseren Blick für die Pflanzen zu schärfen. Denn sie sind eine der wichtigsten Quellen des Lebens: Sie produzieren die Luft, die wir atmen, sie ernähren Tiere und Mikroorganismen, und sie sind fast überall, falls sie vom Menschen nicht verdrängt werden.
Der wichtigste und bis heute nur annäherungsweise verstanden Treiber der Entwicklung des Lebens ist die Evolution. Damit bezeichnet man in der Biologie die genetische (genotypische) und auch die sichtbare äusserliche (phänotypische) Veränderung von Lebewesen. Die Treiber der Evolutionsprozesse – sorry Darwin, du würdest dich ob solcher Vereinfachungen wohl im Grabe umdrehen – sind dabei Diversität und natürlich Selektion. Die Natur, die Lebewesen sind mehrheitlich in ihrer Fortpflanzung darauf ausgerichtet, Diversität zu produzieren, also eine möglichst grosse Vielfalt von Varianten. Danach filtert dann der natürliche Selektionsprozess die Fittesten heraus, die überleben und sich weiter fortpflanzen. Und dann beginnt der Evolutions-Zyklus von neuem, und unendlich wieder und wieder.
In der Pflanzenzüchtung für den Garten machen wir eigentlich genau das Gleiche: wir produzieren Diversität, vor allem mit Kreuzungen verschiedener Sorten und verwandter Arten, und danach schränken wir die Diversität wieder ein, indem wir die Individuen auswählen, die unseren züchterischen Zielen am besten entsprechen. Die Evolution ist ungerichtet, sie hat kein anderes Ziel als das Überleben der Arten.
Im Gegensatz zur Evolution ist die Pflanzenzüchtung jedoch (normalerweise) zielgerichtet. Der Züchter hat ein Ziel vor Augen, welches er erreichen möchte: Krankheitsresistenz, Ertrag, Farbe, Geschmack, Textur etc.. Jedoch gibt es glücklicherweise auch in der Züchtung immer wieder Überraschungen: Häufig entstehen auch Varianten, die wir so gar nicht vorausgesehen haben und die plötzlich ganz neue Perspektiven eröffnen. Solche Entdeckungen und Überraschungen gehören zu den Sternstunden eines Züchters. Das geschieht immer dann, wenn wir plötzlich sehen, was wir nicht oder nicht mehr erwartet haben. In unseren ersten Tomatenkreuzungen haben wir auch kompakt wachsende Strauchtomaten verwendet und haben sie mit krautfäuletoleranten Sorten gekreuzt. Aber für 3 Generationen war dann diese Eigenschaft nicht mehr sichtbar, sie war verschwunden, bis wir sie vor zwei Jahren in der vierten Generation plötzlich wieder entdeckten. Heureka! Daraus sind unsere neuen Schlingel-Strauchtomaten entstanden, die auch ohne Gerüst in einem Gartenbeet oder im Topf angebaut werden können.
Domestikation – der Auftritt des Menschen
Was bedeutet Domestikation? Die Domestikation beschreibt den Prozess wie durch die Auswahl der besten Pflanzen aus einer Wildpflanze mit der Zeit eine Kulturpflanze wird. Domestikation ist somit lange vor der bewussten Pflanzenzüchtung die Verlängerung und Weiterführung der Evolution durch den Menschen. Natürlich machen andere Tiere dasselbe: Der Bär wählt auch die süssesten Früchte – und verteilt dann mit seinen Fäkalien die Samen seiner präferierten Lieblingspflanzen. Aber selbstverständlich sind – zumindest aus Sicht des Menschen – seine eigenen Domestikationsleistungen am weitreichendsten und am wichtigsten.
Dabei ist Domestikation ganz praktisch. Sie ist keine Wissenschaft und auch keine wissenschaftliche Kunst wie das Züchten, sondern gelebte Praxis im Umgang mit Pflanzen, vor allem natürlich mit essbaren Pflanzen. Der Mensch wählt ganz einfach die Samen derjenigen Pflanzen für die Weitervermehrung aus, die ihm am besten gefallen, die er am liebsten isst. Damit beginnt er, seine Nutzpflanzen-Umgebung nach seinen Bedürfnissen zu formen und umzugestalten.
Der Mensch dominiert, verändert und beschleunigt (ja natürlich zerstört er auch)
In der Naturschutzdiskussion kann man immer wieder beobachten, dass Natur als etwas definiert wird, was ausserhalb des Menschen ist. Die Natur ist in vielen Köpfen eine ideale, ausgeglichene und menschenferne Gegenwelt, die es anzustreben und zu erhalten gilt. Nein! Der Mensch ist Teil der Natur. Seine Krux ist, dass er sie auch dann gestaltet, wenn er Naturschutzreservate anlegt und sogleich damit beginnt, nicht erwartete Pflanzen, wie zum Beispiel Neophyten, gleich wieder auszumerzen.
Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass der Mensch zu einer dominierenden Macht, ja zu einer Art Natur-Diktator, zu einer Besatzungsmacht geworden ist. Der Mensch verändert die Natur und die in ihr dominierende Pflanzenwelt und deren Rahmenbedingungen auch so schnell, dass die Pflanzen mit der evolutionären Anpassung gar nicht mehr nachkommen können. Wir müssen den Pflanzen helfen, diesen Rückstand aufzuholen, die letztlich selbstverschuldeten Lücken zu schliessen, wenn wir auch die nächsten paar hundert Jahre satt werden wollen.
Bild: Der Feigenbaum Gustis® Perretta trägt jedes Jahr riesige birnenförmige Früchte, die ein sehr gutes Aroma haben. Obendrein braucht diese Sorte keinen Befruchter.
Die Aufgabe der Pflanzenzüchtung
Der Züchter hat letztlich die Aufgabe, die Evolution und auch die Domestikation weiterzuführen, mit Blick auf die menschlichen Bedürfnisse, aber auch um den Pflanzen zu helfen, sich an die vom Menschen geschaffenen Rahmenbedingungen anzupassen. Wenn sich das Klima so massiv verändert wie in den letzten 50 Jahren, dann werden nicht angepasste Pflanzen ganz einfach verschwinden, und es braucht neue, die ihren Platz einnehmen. Oder es gelingt uns, unsere Lieblingspflanzen, vor allem unsere wichtigsten Nahrungspflanzen so schnell wie möglich den Rahmenbedingungen anzupassen. Aber ohne neue Pflanzen und auch ohne neue fremde Pflanzen wird das nicht gehen. Wir züchten neben den klassischen Kartoffeln auch Süsskartoffeln (die übrigens botanisch mit unseren Erdäpfeln gar nichts zu tun haben), weil wir uns gut vorstellen können, dass sie mit ihrer Resilienz, aber auch mit der effizienten Verwendung des zur Verfügung stehenden Wassers in den nächsten 50 Jahren gleich wichtig oder noch wichtiger werden als Kartoffeln. Wer hätte sich vor 50 Jahren in Mitteleuropa vorstellen können, dass diese subtropische Art (botanisch Ipomea batatas) bei uns im Garten und bald auch auf dem Feld alltäglich sein würde?
Dabei kommen wir als Züchter nicht darum herum, den Pflanzen beim Reisen zu helfen. Zwar können Pflanzen über Jahrmillionen Jahre die halbe Erdkugel überwinden, aber in kurzer Zeit ist das eben nicht möglich. Da sind – in ihrem eigenen Interesse – wieder der Mensch und der Züchter gefragt. Genau darum ist ja das während der Saure-Gurken-Zeit in den Medien jedes Jahr wieder aufpoppende Geschwätz von den guten einheimischen und den bösen fremden Pflanzen so gefährlich. Gemüse ohne fremde, nicht einheimische Arten wäre ziemlich langweilig, unter anderem müssten wir dabei auf alle Fruchtgemüse verzichten.
Anpassung an die menschlichen Bedürfnisse
Wir sind Menschen und kommen aus unserer Haut, aus unserer anthropozentrischen Perspektive nicht heraus. Müssen wir auch gar nicht, wir sollten uns unserer Voreingenommenheit ganz einfach immer bewusst sein. Natürlich müssen wir Nutzpflanzen unseren Bedürfnissen anpassen. Es ist jedoch zu kurz (oder vielleicht auch viel zu weit und am Ziel vorbei) gedacht, wenn diese Anpassung nur im Blick auf die aktuelle industrielle Landwirtschaft und ihrer Verwertungskette erfolgt. Ich wiederhole mich: Pflanzen sollten gut schmecken, sie sollten möglichst resistent sein und einfach angebaut werden können. Diese Basisanforderungen sollten wir nicht vergessen. Es kann nicht das alleinige Ziel der Pflanzenzüchtung sein, 2% mehr Ertrag, einen um 0.3% höheren Zucker- oder Stärkegehalt zu erreichen, weil das die Industrie gerade fordert. Gerade wenn wir unsere menschliche Perspektive benutzen, sind wir auch gut beraten, die Diversität unserer Nahrungsquellen zu diversifizieren.
60% des weltweiten Kalorienbedarfs bestreiten wir aus nur 3 Pflanzen: Mais, Weizen und Reis. Und die anderen 100.000 potentiellen Nutzpflanzen haben wir – leichtsinnig und auch etwas verantwortungslos – aus dem Blick verloren. Genau darum züchten wir bei Lubera im Gemüsebereich neben Kartoffeln und Tomaten auch die knollige Blatterbse, die noch nicht ganz an unsere Bedingungen angepassten Süsskartoffeln, Feuerbohnen und Baumkohl…
Methoden der Pflanzenzüchtung - ein Wort zur Gentechnik und zu neuen Züchtungstechniken
Die neuen und neusten Züchtungsmethoden, die direkt ins Genom, in die genetische Information der Pflanze eingreifen, werden immer wieder breit und kontrovers diskutiert. Aktuell geht es darum, ob eventuell die sogenannte Genedition und die CRISPR/Cas-Methoden, deren Resultate nicht oder nur schwer von konventionellen Züchtungen unterschieden werden können. Es stellt sich die Frage, ob die Gen-Editierung konventionellen Züchtungsmethoden (Kreuzungen = vom Züchter vermittelter Pflanzensex zwischen verschiedenen Sorten und verwandten Arten) gleichgestellt werden soll.
In der Diskussion werden von den Skeptikern (zu denen wir uns zählen) viele ethische, technische und sozioökonomische Fragen aufgeworfen. Schon aus rein ökonomischen Gründen werden diese Techniken vor allem von Grosskonzernen benutzt werden, dies zeigt schon jetzt die Patentsituation in diesem Bereich: Die Patente stammen zu 80% von den grossen Saatgutkonzernen, nur zu 5% von Universitäten und dann von weiteren Firmen, vor allem von risikokapitalfinanzierten Startups. Insgesamt ist zu bedenken, dass diese Techniken in der Tendenz eher zu einer noch stärkeren Oligopolisierung des Saatgut- und Züchtungsmarkt führen werden. Und damit wird die auf die industrielle Verwertungskette ausgelegte olympische Züchtung (grösser, weiter, mehr) noch mehr gestärkt. Auf der anderen Seite wird man sich fragen müssen, ob diese kritischen Argumente denn ausreichen, um vorhandene technische Möglichkeiten nicht zu nutzen…
Wir wenden bei Lubera keine direkt ins Genom eingreifenden gentechnischen Züchtungsmethoden an. Die am Ende politische Diskussion können wir hier nicht führen; ich möchte nur ein paar direkt die Züchtung betreffenden Punkte aufzeigen, die auch unsere Entscheidung für die konventionelle Züchtung wesentlich beeinflussen:
- Alle diese gentechnischen Methoden stellen nur Varianten des Gleichen her. Es wird eine bestehende Sorte/Pflanze genommen, und an einem oder mehreren Orten des Genoms leicht oder auch stark abgeändert. Aber das Resultat ist und bleibt eine Variante, nichts Neues. Wir aber möchten wirklich neue Sorten züchten und dies erreichen wir nur über die klassische Kreuzungszüchtung, bei der die Eigenschaften und die ihnen zugrundeliegenden Gene der Eltern frei und auf zufällige Weise rekombiniert werden.
- Alle diese aktiv ins Genom eingreifenden Züchtungstechniken haben einen grundlegenden Konstruktionsfehler: Sie versuchen herzustellen, was man schon kennt oder zu kennen meint. Man definiert das Ziel und versucht es zu erreichen. Damit wird der Zufall, damit wird die Natur und damit auch die Kreativität ausgeklammert. Züchtung so verstanden ist keine Kunst mehr, nur noch Wissenschaft und in der Anwendung reine Technik.
- Naturgemäss sind diese Methoden teuer und beruhen auf einer vorgängigen sehr aufwändig erarbeiteten Kenntnis der genetischen Struktur einer Pflanze. Das ist an und für sich nichts Schlechtes, aber führt in der Folge halt wieder dazu, dass vor allem an den grossen landwirtschaftlichen Arten gezüchtet wird, der Schatz der anderen 100.000 potentiellen Nutzpflanzen wird nicht angezapft.
- Die Privatisierung der Natur: Die meisten dieser neuen Gen-Techniken sind patentrechtlich geschützt, teilweise x-fach, in allen möglichen Variationen. Das ist grundsätzlich noch nicht schlecht oder gar böse. Aber die Patentierung der Methoden erlaubt es teilweise auch, Traits, bestimmte Eigenschaften bzw. die ihnen zugrundeliegende Struktur zu patentieren. Es gibt im Patenrecht keine klare Trennung von Methoden und Resultaten. Genau dieses Problem löst der grundsätzlich für Pflanzen zuständige Schutzmechanismus, der sogenannte Sortenschutz. Im Sortenschutz erhält der Sortenrechtsinhaber für 20 Jahre das exklusive Recht an seiner gezüchteten Pflanze, aber jeder andere Züchter kann mit den fremden neuen Sorten frei und ohne Verpflichtungen irgendwelcher Art weiterzüchten. Damit wird die Innovation des ersten Züchters belohnt, ohne den weiteren Fortschritt durch anderen Züchter zu verhindern. Genau dies ist im Patentrecht nicht der Fall. Die neuen Züchtungstechniken werden zu einer Flut von patentierten Methoden und zu einem Tsunami von Pflanzen führen, die von Patenten betroffen wird. Dies wiederum führt zu einer Privatisierung der Natur und des Lebens und wird wiederum zu einer stärkeren Monopolisierung führen.