Seit einigen Jahren betreiben wir bei Lubera auch ein Birnenzüchtungsprogramm – und jetzt in den ersten Oktobertagen – kann ich die diesjährige Selektionsarbeit bei den Birnen gerade abschliessen. Grund genug, einige Bemerkungen zur 20 festzuhalten. Schliesslich sind Sie genauso gespannt wie ich, was da einmal rauskommen wird ;-) Am Ende dieses Artikels, das kann ich Ihnen versprechen, werden Sie genau so wenig wissen wie ich. Immerhin.
Das gleiche nochmals
Ganz allgemein ist die genetische Bandbreite bei den Birnen viel schmaler als bei den Äpfeln – man findet also immer wieder etwa Dasselbe. Die andere Seite der gleichen Medaille: Man selektioniert auch sehr schnell viele GUTE und sehr GUTE Birnen, die aber immer wieder an ihre Eltern oder andere Vorgängersorten erinnern, die fast allesamt aus dem 18. und 19. Jahrhundert stammen. Und noch was fällt auf: Eine der produktivsten und am häufigsten züchterisch reproduzierten Sorten ist Conference; die Sämlinge dieser Sorte fruchten einfach am schnellsten und haben auch in sehr grosser Zahl eine schöne Form und eine sehr gute Qualität. Und teilweise können sie auch den Weg in eine Zukunft der Birnenzüchtung weisen: mit knackigerem Fruchtfleisch, mit längerer Haltbarkeit. Doch davon weiter unten mehr. Was vielfach bei Conference und ihren Nachkommen fehlt: das extraordinäre Aroma.
Die Birnenmanie des 19. Jahrhunderts
Im 19. Jahrhundert, das man mit gutem Recht als das Jahrhundert der Birne bezeichnen könnte, betätigten sich unzählige Kleinadelige, Beamte, Lehrer, Pfarrherren, Lokalpolitiker und auch schon die ersten Baumschulbesitzer als Birnenzüchter und produzierten so in relativ kurzer Zeit eine fast unübersehbare Anzahl von neuen Birnensorten. Die besten – oder eher die Überlebenden davon – machen noch heute den Hauptharst des Birnensortiments aus. Es war ganz einfach leicht, so vermute ich nun mit meiner neuen Erfahrung als Birnenzüchter, eine neue Birnensorte zu finden, indem man einige Dutzend Samen einer anderen guten Birnensorte aussäte und dann auf die Früchte wartete. Denn fast sicher fand man in den Nachkommen einer guten Sorten etwas ähnlich Gutes. Vielleicht war es auch in der Denke des 19. Jahrhunderts gar nicht so schlimm, wenn sich dann die neue Sorte nicht so sehr von den alten unterschied. Viel wichtiger war, das sie (auch) gut war, vielleicht noch etwas besser als die Vorgänger- und Konkurrenzsorten – vielleicht aber auch nicht. Der Züchter und Entdecker fühlte sich schon erhöht und ausgezeichnet von der Entdeckung, vom Genuss und von der Beschreibung der Sorte und des Fruchtgenusses selber. Da musste die Sorte nicht auch noch ganz anders sein. Vielleicht war ganz einfach im 19. Jahrhundert bei Züchtern und bei ihren Sorten der Individualismus noch nicht so ausgeprägt wie heute, wo von neuen Sorten möglichst klare und revolutionäre Unterscheidungsmerkmale verlangt werden, unerhörte Fortschritte, ganz neue Erlebnisse. Die Variation des Guten war damals noch gut genug, der Genuss einer schmelzenden Birne einerseits und die umständliche, möglichst detailgetreue, geradezu kleinkarierte Fruchtbeschreibung in mehrbändigen Pomologien reichte zu Glück des Connaisseurs und Züchters. Das war zwar kein Massenphänomen, aber ging doch nicht ganz ohne Gruppendynamik: Mit Vorliebe und Inbrunst schrieben Pomologen über andere Pomologen und deren Sorten, und geradezu systematisch verewigten sie sich gegenseitig mit Sortennamen: Van Mons benannte eine Birne nach Léon Leclerc de Laval (übrigens die Muttersorte von Conference). Und Léon Leclerc, ein Agronom, Beamter und Politiker aus Laval in Frankreich, revanchierte sich früher oder später bei seinem belgischen Kollegen mit einer Sorte Van Mons. Wie du mir, so ich dir. Vereint im Birnengenuss und der Birnenverrücktheit. Und vereint auch in einer biedermeierlichen Ernsthaftigkeit, ja Humorlosigkeit, die der Grenzenlosigkeit des Genusses so gar nicht angemessen scheint. Die ‘Wissenschaft’ der Pomologie und die beckmesserische Beschreibung der Früchte waren so unglaublich wichtig, da blieb kein Platz für Humor – und übrigens auch kein Platz für eine phantasievolle Sprache. Die Pomologien, die Sortenbücher des 19. Jahrhunderts sind unglaublich … langweilig.
Das Gute noch besser machen
Zunächst verstehe ich genau die beschriebene (zugegebenermassen allerding nur vermutete) Gefühlslage meiner Kollegen im 19. Jahrhundert. Da ist zunächst das epikuräische Glück des Züchters, der Zauber des Genusses, der sich bei Birnen immer wieder in Varianten wiederholt. Da ist aber auch schon der neuzeitliche Zwang zur Wissenschaftlichkeit, zur Genauigkeit, zur hypergenauen Fruchtzeichnung und Beschreibung in den zeitgenössischen Pomologien. Letzteres gilt zwar auch für die Apfelzüchtungen des 19. Jahrhunderts, aber die Unterschiede zwischen den Sorten sind da deutlicher, das Genusserlebnis ganz allgemein weniger dominierend. Interessanterweise schreiben die Pomologen des 19. Jahrhunderts auch ganz und gar nicht ausschweifend über ihren Birnengenuss, sondern versuchen das Erlebnis in wissenschaftlicher ‘codierter’ Sprache zu domestizieren: Der Genuss, das Erlebnis, so vermute ich, ist die Triebfeder ihrer Züchterei und Schriftstellerei, nicht Teil ihres Ausdrucks. Da tauchen bei Dutzenden, ja fast Hunderten von Sorten immer wieder die gleichen Wörter auf. Das einzigartige, aber doch bei der Birne und bei vielen Birnen wiederholbare Esserlebnis, braucht keinen einzigartigen Ausdruck. Eigentlich braucht es auch nicht einzigartige Sorten. Oder anders ausgedrückt: die Variation des Gleichen als Resultat der Züchtung ist kein Problem. Den Genuss hat man ja (fast) auf sicher. Und also züchtete man im 19. Jahrhundert fröhlich unendlich weiter, und noch eine neue Birne, und noch eine …
Und heute? Und ich als Birnenzüchter, was sind meine Ziele, was ist mein Antrieb?
Zunächst ist da mal der bescheidene Ansatz, den ich immer wieder gerne mit dem Züchterzwerg auf den Schultern des Riesen, der Züchtungstradition beschreibe: Ich werde ganz sicher – und ohne eine Spur schlechten Gewissens, denn Genuss kennt kein Gewissen – in der Nachfolge der ebenso biederen wie epikuräischen Birnenzüchter des 19. Jahrhunderts einige Sorten selektionieren, die nicht viel anders sein werden als ihre Vorfahren, aber vielleicht, vielleicht doch ein kleines bisschen besser. Vielleicht aber auch nicht. Aber ich zuerst und dann auch unsere Kunden werden unseren Genuss, unseren Spass daran haben …
Aber wäre es auch möglich, eine ganz neue, andere Birne zu züchten?
Texturen … oder die Ungleichzeitigkeit von Birne und Apfel
Der Idealtyp einer klassischen Birne, mit dem perfekten Birnengeschmack, mit einem butterzarten Esserlebnis, ist Comice, die Vereinsdechantbirne, oder eine ihrer leicht rot gefärbte Varianten, wie zum Beispiel die Löffelbirne. Und da bin ich wirklich nicht sicher, ob das noch besser geht!? Die Frage aber, die ich mir beim Birnenessen draussen auf dem Feld vor meinen Sämlingen stelle, ist eine ganz andere: Könnte es nicht noch andere Birnengenüsse, andere Texturen geben, die interessant wären. Kürzlich ass ich eine Birne, eine europäische Birne, die nach den Massstäben des 19. Jahrhunderts unreif war, eben noch nicht schmelzend, die aber grobzellig und kackig war, und einen explosiven, säuerlich süssen Saft hergab, der direkt an das Esserlebnis der asiatischen Birnen denken liess. Nur mit mehr Pepp! Hier wären also vielleicht neue Birnen möglich, und ich bin mir nicht sicher, ob dazu wirklich die asiatischen Birnen eingekreuzt werden müssen, die sehr gerne und schnell bei leichter Überreife oder nach einigen Tagen im Verkaufsgestell einen alkoholischen Beigeschmack bekommen.
Also sind neue Texturen gefragt! Nicht zuletzt deshalb, weil unser Zahnapparat ganz anders aussieht, als vor 150 Jahren: War dort eine schmelzende Birne letztlich die Voraussetzung eines funktionierenden Esserlebnisses, so lechzen unsere scharfen und intakten Beisser heutzutage geradezu nach festem Fleisch, nach Knackigkeit. Und so steht man dann als Birnenliebhaber manchmal fassungslos vor oder neben modernen Birnenessern (und sei es in der eigenen Familie!), die ungerührt in unreife Birnen beissen, und das feste Fruchtfleisch, mit dem leicht süsslichen, aber noch weitgehend neutralen, wenn nicht grünlichen Aroma, als fein und gut deklarieren. Welche Verschwendung! Was für ein Sakrileg! Wenn sie nur wüssten, wie man Birnen richtig geniesst!!!
Aber was ist denn schon ‘richtig’? Und vielleicht wäre umgekehrt auch gefahren bzw. gegessen. Vielleicht sollten wir die Birnen dem neuzeitlichen Zahnapparat anpassen, an die Art und Weise, wie wir heute, hier und jetzt gerne Früchte geniessen: (leider) nicht mehr saftend und vielleicht sogar grunzend und schlabbernd, sondern fein säuberlich aufgeräumt, mit möglichst wenig Geräuschemission beissend und kauend. Alles hat ganz abgeschirmt im Mund selber zu erfolgen. Und wie schon gesagt: Die Werkzeuge dazu haben wir ja unterdessen zur Verfügung!
Sie hören natürlich meine Sympathie für den alten Genuss, der sich auch nach aussen, öffentlich zeigt, wo der Saft fliesst und der Mund tropft. Als moderner Mensch weiss ich aber auch um die Vorteile, um die Segnungen eines intakten Zahnapparats. Und als Züchter habe ich gelernt, dass es andere spannende und genussmässig interessante Texturen, Fruchtaggregatzustände gibt, die wir vielleicht für die Birne erst noch erkunden müssen.
Eine letzte Überlegung möchte ich noch nachschieben, wenn wir versuchen, die Entwicklung von Apfel und Birne nachzuverfolgen. Die Hoch-Zeit der Birne im 19. Jahrhundert, ihre Priorisierung vor dem Apfel, hängt natürlich auch wieder mit den unmittelbaren Umständen des Genusses zusammen: mit dem Zahnapparat. Beim Apfel gibt es eben keinen schmelzenden Fruchtzustand, ein essbarer Apfel war nur weich, mehlig und im besten Falle noch ein bisschen süss. Allenfalls war er noch gekocht denkbar, als Apfelmus oder Applesauce. Die meisten Äpfel aber wurden flüssig, als vergorener Saft lagerfähig und ‘geniessbar’ gemacht. Mit anderen Worten: Der Apfel als Frischfrucht passte nicht wirklich gut ins 19. und auch die vorhergehenden Jahrhunderte. Umgekehrt sind heute beim Apfel die Anpassungen an die neuen sozialen und ökonomischen Umstände des Essens weitgehend abgeschlossen. Der Apfel ist im 20. Jahrhundert regelrecht zu sich selber gekommen: als Frischfrucht, knackig und bissfest, dank neuer Lagertechnik fast unendlich lagerfähig. Die Birne aber muss erst noch einen Weg in die Moderne, meinetwegen auch in die Postmoderne ;-) finden. Das 20. Jahrhundert hat die Birne sozusagen verpasst. Sie ist zu einer Reminiszenz vergangener Zeiten geworden. Mal schauen, was das 21. Jahrhundert bringt.
… und Farben
Die Birne ist farblich eine etwas langweilige bicolore Angelegenheit: Es gibt grossomodo nur zwei Farben, grün und bronze-berostet, allenfalls noch gelb, wenn die grüne Birne reif wird. Das alles allerdings mit allen möglichen Übergangs- und Mischformen. Rot war selten. Kein Wunder also, wenn in den letzten 20 Jahren eine regelrechte Jagd nach roten Birnen losgegangen ist. Die Schwierigkeit dabei: Die rote Farbe auf Birnen ist meistens ziemlich flüchtig, je früher sie sich auf den Birnenbäckchen zeigt, desto eher verabschiedet sie sich nach der Ernte auch wieder. Wirklich rote Birne gibt es deshalb nur ganz wenige … Aber selbstverständlich ist hier ein grosser Raum für Verbesserungen. Und rotfleischige Birnen? Unter den alten, teilweise sehr alten Birnensorten existieren zwei Gruppen von rot- oder rötlichfleischigen Birnen: Die Sommerblutbirnen, die sehr früh reif werden, meist nur einen Hauch von Rot im Fruchtfleisch zulassen, aber geschmacklich recht gut sind. Aber sie verschwinden wegen ihres frühen Reifezeitpunktes, gänzlich ohne Lagerfähigkeit, jeweils fast schneller wieder aus unserem Fruchtgedächtnis als sie auftauchen. Dennoch kann hier züchterisch natürlich angeknüpft werden. Und dann ist da noch eine Gruppe sehr spät reifender rotfleischiger Birnensorten, vor allem bei den englischen Perry-Birnen, mit rot marmoriertem Fruchtfleisch und tiefrotem Kerngehäuse. Die roten Perries sind spät bis sehr spät reif, sie sind teilweise sehr schön rot, aber frisch weitgehend ungeniessbar, weil die Bitterstoffe jeden auch nur entfernt angenehmen Fruchtgeschmack und Zucker überdecken. Die Perries werden denn auch vor allem für die Produktion von Birnen-Cider benutzt. Bei Lubera verfolgen wir beide Züchtungsmöglichkeiten, früh und spät, aber bis zu essbaren, ja wirklich guten Birnen wird da noch einige Zeit vergehen.
Slow fruit – fast food
Die Birne, in ihrem historischen aus dem 19. Jahrhundert überlieferten Zustand, ist eine ‘slow fruit’. Sie wird nicht so gegessen, wie sie geerntet wird. Sie braucht Zeit und Geduld; was man bekommt, ist nicht das, was man zunächst sieht und erntet. Aber irgendwann, wenn die Birnen dann essreif werden, geht es auch sehr sehr schnell. Von den Birnenliebhabern des 19. Jahrhunderts wird kolportiert, dass sie mitten in der Nacht, wenn möglich nicht nur einmal, aufgestanden seien, um zu überprüfen, ob der Gegenstand ihres Verlangens, die nächste reife Birne, vielleicht gerade den idealen, aber auch äusserst prekären Reifezustand erreicht habe. Denn nach dem kurzen Höhepunkt kommt bei der Birne nichts Erstrebenswertes mehr … Auch diese Geschichte erzähle ich übrigens nicht ohne Sympathie, aber ich weiss auch genau, dass eine solche Frucht eigentlich nicht mehr in unsere Zeit passt. Die Birne ist gleichzeitig zu langsam und zu schnell. Sie braucht Zeit und Aufmerksamkeit, die wir – leider, aber auch tatsächlich – nicht mehr haben. Vielleicht ist auch genau das der Fehler der Slow Food Bewegung: Dass sie sich gegen die Zeit stellt, dass sie letztlich rückwärtsgewandt ist, anstatt zu versuchen, den Genuss so neu zu strukturieren, dass er wieder in diese Zeit passt. Nichts anderes ist das Ziel der Obstzüchtung, so wie wir sie verstehen und zusätzlich noch auf den Gartenanbau auszurichten versuchen. Für die Birne aber heisst das: Das Shelflife, also die Haltbarkeit muss verbessert werden. Damit ist aber nicht die Haltbarkeit im Lager des Obstbauern oder Fruchthändlers gemeint, sondern die Haltbarkeit beim Konsument oder Gärtner: Wir brauchen Birnen, die eine längere Zeit im idealen Genusszustand verbleiben, welcher das auch immer sei.
Die Neue Birne?
Ist eine solche neue Birne zu erreichen, die in unsere Zeit passt? Die den Genuss des 19. Jahrhunderts in unsere Zeit rettet, ihn sich neu entfalten lässt? Geben wir es zu, die Birne ist altmodisch; wie kann sie wieder neu und spannend werden? Sicher ist, dass wir das mit Rückwärtsgewandtheit allein, mit der Predigt der vergangenen Tage (so erstrebenswert sie im sehr weiten Rückblick auch erscheinen mögen) nichts erreichen. Ich sehe aber auch, das der Garten als Zeitoase eine Nische bleiben wird, ein Refugium, wo die alte Birne, mit ihrer prekär-kurzen Genusszeit, ihren Platz behalten kann. Ob es mir, ob es uns bei Lubera zusätzlich gelingen wird, neue Birnen für heute, für morgen zu züchten? Noch weiss ich das selber nicht, wir sind ganz am Anfang, wie vielleicht vor 20 Jahren mit unseren Apfelzüchtungsprogrammen. Aber so langsam zeigen sich die Möglichkeiten, zeigen sich neue Wege auf. Und auf dem Weg dahin, zur neuen Birne, gebe ich mich immer wieder gerne und ohne schlechtes Gewissen dem Genuss einer alten oder auch neuen schmelzenden und feinzungigen Butterbirne hin … Ja ich weiss, das ist nicht die Zukunft, aber das ist MEIN Genuss, hier und jetzt, in meinem Züchtungsgarten.