Seit Ende Februar/Anfang März erreichen mich wieder diverse Mails zum Thema schneiden, was und wie und warum. Bei überraschend vielen Mails geht es aber interessanterweise eigentlich nicht darum, wie man jetzt schneiden könnte, sondern viele Kunden sind eigentlich nur bestrebt, von mir eine Absolution zu erhalten, dass man jetzt nicht, nicht mehr, noch nicht oder gar nicht schneiden muss… Es ist immer wieder ein Freude zu sehen, wie viele Gründe uns Menschen einfallen, um etwas nicht zu tun. Prokrastination – so heisst nämlich Verschieberitis auf wissenschaftlich – ist all überall. Da bin ich natürlich keine Ausnahme: Diesen Newsletterbeitrag schreibe ich im allerletzten Moment, sozusagen schon nach Redaktionsschluss;-)
Um es ein für allemal – und offiziell – festzuhalten JETZT ist für fast alle Pflanzen der richtige Zeitpunkt, um zu schneiden. Punkt.
Und wenn Sie dazu zusätzliche Tipps und Anleitungen wünschen, gibt es von uns buchstäblich Hunderte von Videos zu den verschiedensten Pflanzen. Hier geht’s zu einer Linksammlung in unserem Magazin, von wo sie dann gezielt die richtigen Videos ansteuern können. Und im nächsten Newsletter in 2 Wochen hoffe ich gut 20 neue Schnittvideos präsentieren zu können. Wir haben letzte Woche unseren Mundraubgarten in Ippenburg gepflegt und geschnitten und selbstverständlich alles auch videomässig festgehalten …
Jetzt aber möchte ich mich für einmal darauf konzentrieren, all die Gründe fürs Nicht-Schneiden zu wiederlegen, die ich so oft höre:
- Wir haben im Herbst nicht geschnitten und damit den besten Zeitpunkt verpasst. Es ist doch sicher richtig, jetzt bis zum nächsten Herbst zu warten, oder? - Ha natürlich, und dann noch ein Jahr, und wieder ein Jahr undsoweiterundsofort. Etwas nicht getan zu haben ist ganz sicher kein zureichender Grund, es jetzt nicht nachzuholen. Das stinkt nach Verschieberitis in Reinkultur, ist aber clever getarnt. Den argumentativen Ausweg, der das Perpetuum mobile des Verschiebens erst ermöglicht, sperren wir jetzt gleich ab: Grundsätzlich und für fast alle Pflanzen ist der Frühling, Ende Februar bis Anfang April, der beste Schnittzeitpunkt.
- Die Pflanzen, die wir eigentlich schneiden sollten, drücken schon. Es ist doch jetzt sicher zu spät und wir warten besser bis zum nächsten Frühjahr. - Wieder soll die eigene Verschieberitis – oder nennen wir sie vielleicht doch lieber Prokrastination? – selber die Begründung dafür sein, dass man etwas nicht tun muss. Weil ich es nicht getan habe, muss ich es nicht mehr tun. Fast schon genial, diese Begründung: Der Verschieber/die Verschieberin zieht sich sozusagen an den eigenen Haaren aus dem Verschiebungssumpf. Weil ich es schon verschoben habe, kann ich?s weiter verschieben!
- Meine Frau/mein Mann sagt, jetzt sei nicht der richtige Zeitpunkt! – Na ja, das tönt jetzt nicht wirklich ganz ehrlich. Aber so ist das wahre Leben … Und wann hören wir sonst noch auf unseren Mann / unsere Frau? Immer dann, wenn ihr/sein Argument uns in den Kram passt.
- Mein Nachbar schneidet auch nicht. – Na ja, da könnte ich den obigen Kommentar glatt wiederholen. Allerdings ist uns ja der Nachbar weniger nah als der eigene Partner. Deshalb wohl ist seine Autorität höher. Oder etwa nicht? Noch etwas ist hier interessant: Dass man etwas macht, was der Nachbar auch macht, ist psychologisch gut nachvollziehbar. Aber dass man etwas nicht macht, nur weil es auch der Nachbar nicht macht, ist doch etwas eigenartig. Wenn schon, würde man hier eigentlich eine Gegenreaktion, einen trotzigen Widerpart erwarten. Aber halt: Eigentlich geht es halt eben nur um die pseudo-objektive und nachträgliche Begründung der eignen Prokrastination. Und dafür darf der Nachbar jederzeit gerne herhalten.
- Ich weiss nicht, wie ich schneiden soll, also mache ich besser nichts! - Das ist schon fast sokratisch. Ich weiss, dass ich nichts weiss … deshalb bleibe ich gleich in meinem Fass liegen. Das war aber wieder ein anderer antiker Philosoph … Nichts-wissen ist kein hinreichender Grund für Nicht-handeln, sondern für kluges Handeln. Ich lerne nur, wenn ich schneide und dann die Reaktion, das Resultat beobachte, und daraus wieder Folgerungen für das Schneiden ziehe: Versuch und Irrtum. Nichts machen führt am wahrscheinlichsten zu gar nichts.
- Ich weiss nicht, wie ich schneiden soll, also beauftrage ich den Galabauer. - Da muss ich jetzt sehr vorsichtig sein … Ich halte den Galabauer für keine sehr gute Lösung für den Schnitt. Als Obstbauer sage ich nur so viel: Gerade bei Obstgehölzen versagen die Gartenbauern häufig beim Schneiden, weil es ihnen nicht um die Frucht geht, nur um die Pflanze. Auf Deutsch: Sie schneiden bei Obstbäumen fast immer zu stark, das geht auf Kosten des Fruchtansatzes.
- Ich liebe meine Pflanzen, ich kann einfach nicht zusehen, wie sie beschnitten werden.- Es ist kaum zu glauben, wie oft diese Argumentation dem Schneiden entgegensteht. Vor einigen Jahren zogen Falko Berg und ich jeden Samstag durchs Land, schnitten Pflanzen bei Lubera-Kunden und filmten dabei. Ganz häufig standen die Gartenbesitzer daneben, freudig überrascht, aber auch fast zitternd vor Angst (um ihre Pflanzen). Nur die Autorität der Kameralinse hinderte sie daran, zwischen meine Schere und ihre Pflanzen zu treten (so, aber jetzt reicht’s auch, das ist genug). Vielleicht ist es auch genau diese Angst, die uns in vielen Fällen Kaffee und Kuchen bescherte: Wenn sie trinken, essen und reden, können sie nicht noch mehr Pflanzen beschneiden=schädigen …
- Vor Jahren habe ich meine Reben, meine Kiwi im Frühjahr geschnitten und sie haben geweint ohne Ende. Das will ich ihnen nicht noch einmal antun. – Wie im letzten Punkt geht es hier eigentlich um die Vermenschlichung der Pflanze. Darüber kann man natürlich diskutieren. Aber man sollte auch nicht vergessen, dass Pflanzen im Unterschied zu Menschen und Tieren einen grossen Vorteil haben: Die Omnipotenz der Zelle und kleiner Zellverbände, aus denen jederzeit wieder eine ganze heile Pflanze nachwachsen kann. Was wir schneiden ist nicht unwiederbringlich verloren.
- Wenn ich schneide, schneide ich sicher falsch. Also schneide ich nicht. - Das ist stubenreiner Defätismus. Kapitulation im Vornherein. Falsch könnte man ja eigentlich nur schneiden, wenn man wüsste, wie man richtig scheidet. Und wenn man das wüsste, gäbe es eigentlich keinen Grund mehr, falsch zu schneiden … In Tat und Wahrheit ist es aber ganz anders: Es gibt kein richtig oder falsch und viele Wege führen nach Rom. Mein Lehrmeister im Obstbau, z.B. Christian Krebs, schnitt ganz anders als viele seiner Kollegen, aber trotzdem produzierte er wunderschöne Äpfel und auch genug. Es ist wohl wirklich der Prozess, der zum besten Resultat führt: Ich schneide, der Baum reagiert, ich überprüfe das Resultat und passe meine Massnahmen an …
- Sie haben mal gesagt, dass die meisten Leute im Garten eher zu stark als zu wenig schneiden! Touché. Ja, das habe ich wohl gesagt und im Auge hatte ich vor allem die Obstbäume. Aber ich habe definitiv nicht gesagt, dass man gar nicht schneiden soll, aber halt so wenig wie nötig. Aber ich gebe zu: Faul, mit wenig Aufwand zu Gärtnern liegt mir durchaus nahe. Prokrastination (jetzt wissen Sie, was das bedeutet;-) führt aber à la longue eher zu mehr Arbeit und weniger Vergnügen.
- Auf den 11. bis 13. Punkt verzichte ich jetzt schweren Herzens. Aber ich muss endlich meinen schon längst überfälligen Artikel abliefern, sonst wird mich unsere neue Redakteurin Lesya gleich zur Prokrastinationstherapie anmelden.
Gartenbauern? Gartenbauer!
Oder?
Markus