Irgendwie habe ich langsam Mühe, die zeitliche Distanz von Erinnerungen abzuschätzen… Jedenfalls sass ich vor einigen Jahren im altehrwürdigen Sitzungssaal einer landwirtschaftlichen Forschungsanstalt in der Nähe von Manchester. Langer Sitzungstisch, umringt von hochlehnigen, mit Leder überzogenen Stühlen. Eines Rittersaals nicht ganz würdig, aber für Agronomen und Pflanzenzüchter schon ziemlich einschüchternd. Es ging an diesem Nachmittag um einen Versuch mit kältetoleranteren und nässetoleranteren Erdnüssen, die wir aus Indien erhalten hatten, und die mein englischer Freund und ich hier testen wollten. Erdnüsse in der Nähe von Manchester… Aus diesem Versuch und aus den Nachfolgepflanzungen in Buchs entstanden übrigens unsere (Not) Just Peanuts®, unser Erdnusssortiment…
Ich hatte allerdings meine liebe Mühe, mich auf die Erdnüsse zu konzentrieren, denn rundum an den Wänden hingen gemalte Portraits und Fotos von eindrucksvollen Männern aus dem letzten und wohl auch vorletzten Jahrhundert. Auf meine Frage, wer denn die Herren seien (es waren definitiv keine Damen dabei), erwiderte der Gastgeber, es sei die Ahnenreihe der Rhabarberzüchter, die bis vor ein paar Jahrzehnten hier gewirkt und gezüchtet hatten…
Rhabarberzüchter? Stolze Portraits von Rhabarberzüchtern? Oder war es vielleicht doch der sprichwörtliche spleenige Humor der Engländer? Kann man neue Rhabarber züchten? Warum wurden seit Jahrzehnten kaum neue Rhabarbersorten gezüchtet? Was könnte man beim Rhabarber noch alles an überraschenden Eigenschaften und neuen Qualitäten erwarten? Der Raum war für mich plötzlich voll von drängenden Fragen, weit weg von den ebenfalls ziemlich verrückten Peanuts.
Auf dem Rückflug nach Zürich fasste ich den Entschluss: Wir werden Rhabarber züchten. Und gleichsam nebenbei natürlich auch einen genaueren Blick auf die Erdnüsse werfen. Wohin das führen würde, wusste ich nicht. Eines allerdings ahnte ich: Wenn wir relativ neue Kulturpflanzen (Rhabarber wurden erst um ca. 1800 als Kulturpflanzen entdeckt) züchterisch anfassen, so gibt es fast immer interessante und neuartige, meist auch überraschende Resultate.
Jetzt ist es soweit. Nach einem knappen Jahrzehnt Züchtungsarbeit können wir dieses Jahr – und wohl noch einige weitere Jahre – eine Handvoll von neuen Rhabarbersorten einführen. Unterdessen haben wir Tausende von Rhabarbersämlingen ausgesät und aufs Feld gepflanzt und uns von den sauren Stängeln verführen lassen. Wir? Schnell bemerkten wir, dass mein Züchtungskollege Frederik Vollert beim Rhabarber einen besonderen Elan entwickelte und auch geduldig Dutzende von Vergleichsproben ass, allerdings nicht ohne manchmal eine saure Miene zu machen. Er hielt aber den Säurestress und Frischeschock auf bewundernswerte Art und Weise durch, obwohl seine Vorliebe für eher süsse Früchtchen bekannt ist.
Bild: Frederik bei der Rhabarberernte auf dem Züchtungsfeld von Lubera Schweiz.
Bild: Aus den verschiedenen Rhabarbern wurde Rhabarber-Mus gekocht und danach degustiert.
Frederik und unser Züchtungsteam entdeckten bald, dass wir neben den klassischen, früh austreibenden, ertragreichen Frühlingsrhabarbern (wir nennen sie fortan Springbarber®) auch eine Vielzahl von Sorten und Sortenkandidaten identifizieren konnten, die auch in einem heissen Sommer unentwegt neue Triebe und Stängel nachschieben und fast über die ganze Vegetationsperiode eine reiche Ernte ermöglichen. Diese neue Gruppe von Rhabarbern – wir nennen sie im Gegensatz zu den klassischen Springbarbern Everbarber® – können auch gegen die Schulmeinung, im Mai oder Juni ganz abgeerntet werden. Und schon vier Wochen später erlaubt es die hohe Temperaturtoleranz diesen Sorten, wieder in alter Frische dazustehen, als seien sie nie ganz geplündert und abgeerntet worden… Und selbstverständlich können diese Everbarber® auch je nach Bedarf im Sommer und Herbst nachgeentet werden. Bitte aber dann nur noch die Stängel für ein Gericht auf einmal abernten...
Bild: Rhabarber Everbarber® 'Pinkbarber'®, Rheum rhabarbarum – der dauertragende pink-rote Rhabarber.
Bild: Rhabarber Everbarber® 'Cropstar'®, Rheum rhabarbarum – höchste Erträge, das ganze Jahr.
Bild: Rhabarber Everbarber® 'Potstar'®, Rheum rhabarbarum – ideal für den Anbau im Kübel.
Bild: Rhabarber Springbarber® 'Kickoff'®, Rheum rhabarbarum – der früheste Rhabarber.
Aber halt, darf man Rhabarber nach dem längsten Tag überhaupt noch essen und geniessen? Da gibt es ja die Geschichte mit dem Oxalsäure Gehalt. Ja das könnte wirklich ein Problem sein, wenn man Rhabarber, wie in England des 19. Jahrhunderts und bis in die 50er Jahren des 20. Jahrhunderts, den Schulkindern jeden Tag als Dessert serviert… Wenn man aber einfach alle paar Wochen mal eine erquickende Rhabarberlust verspürt, auf Rhabarbersaft, auf ein Mus, auf einen erfrischenden Rhabarberkuchen im heissen Sommer, dann ist der Oxalsäure Gehalt kein wirkliches Problem. Es ist bekanntlich die Dosis, die das Gift ausmacht…
Übrigens führt unser Rhabarberabenteuer noch zu einer weiteren Gruppe von Rhabarbersorten, zu den Bloombarbern®. Während die stolzen Züchter im Ahnensaal der englischen Forschungsanstalt Rhabarber vor allem GEGEN Blüte selektionierten, also vor allem Sorten ausgelesen haben, die wenig oder gar keine Blüten entwickelten, liessen wir es drauf ankommen, und wählten auch Rhabarberindividuen aus, die extrem stark wachsen und regelmässig 6 bis 12 Blütenstängel entwickeln, ohne dass der Stielertrag darunter zu leiden scheint. Aber ganz so weit sind wir noch nicht, diese Sorten werden wir dann in den nächsten Jahren einführen… Züchtung und Sortenentwicklung brauchen so viel Zeit, dass es auf ein paar Jahre mehr oder weniger nicht mehr ankommt. Auch das konnte man von den Züchterportraits in England lernen…
Das ist eine der spannendsten Erfahrungen bei der Pflanzenzüchtung. Sie funktioniert häufig (aber selbstverständlich nicht immer) dann am besten, wenn man noch gar nicht weiss, was man eigentlich sucht – und wenn man sich, wie der mutig frische Rhabarberstängel kauende Züchterhüne Frederik Vollert, auf eine Entdeckungsreise einlässt.
Herzliche Grüsse
Markus Kobelt