Ich kann mich gut an McIntosh erinnern, der zu Beginn meiner Obstbaukarriere noch ziemlich präsent war: Ein guter Apfel, aber nach heutigen Begriffen etwas zu weiches Fruchtfleisch, eher tief in den Säure- und Zuckerwerten (aber dafür in einem guten und angenehmen Verhältnis). Das Spezielle an diesem Apfel: Ein intensives süssliches, vielleicht weibliches Parfum, das einem beim und nach dem Essen in die Nase steigt und das viele Äpfel der McIntosh-Gruppe kennzeichnet. Dazu hat McIntosh selbst eine relativ hohe Anfälligkeit für Schorf und Mehltau, was allerdings bei den Abkömmlingen Spartan und später dann bei den schorfresistenten Sorten Liberty und Florina stark verbessert wurde.
Aber darum gleich von einem hundsmiserablen Elternteil zu sprechen? Ist das angebracht? Na ja, als Züchter habe ich jetzt 20 Jahre Erfahrung mit der Züchtung von Säulenäpfeln, die allesamt auf eine McIntosh Mutation namens Wijick zurückgehen. Und da muss ich wirklich sagen, dass es sehr schwierig ist, auf McIntosh-Basis eine wirklich moderne, feste, knackige und brechende Textur (ich beisse nur teilweise rein und kann dann einen ganzen Bissen rausbrechen) zu erreichen; ebenfalls ist es bei McIntosh und Wijick-Abkömmlingen nicht einfach, Zucker und Säure auf ein hohes Niveau zu bringen. Und nur das habe ich mit dem ?hundsmiserablen Elternteil? gemeint: McIntosh ist zwar – mindestens historisch gesehen – ein guter Apfel, aber er vererbt gute Eigenschaften nur schlecht und schlechte Eigenschaften lassen sich nur schwer und über mehrere Generationen verbessern … Aber bei den Säulenbäumen bleibt uns auch gar nichts anderes übrig; wir müssen mit der Erbschaft McIntoshs zurechtkommen – ob wir wollen oder nicht …
Neben seinen objektiven Schwächen (Krankheitsanfälligkeit, weiches Fruchtfleisch) ist McIntosh in Europa wahrscheinlich gerade seine Stärke, sein Charaktermerkmal, das auffällig süssliche, Überreife und Schwülstigkeit signalisierende Parfum zum Verhängnis geworden. Ich stelle auch heute noch fest, dass es bei den meisten Besuchern auf Ablehnung stösst, wenn wir es einmal bei einer Zuchtnummer von uns feststellen, von einigen wird es sogar als widerwärtig, eklig beschrieben. Das könnte damit zusammenhängen, dass dieses Parfum – meiner Meinung nach – ganz ähnlich riecht (oder duftet) – nur viel intensiver und süsser- wie der Duft einer Kiste Äpfel, die etwas zu lange in einem warmen Raum gelagert worden ist, oder – sie sehen, ich spreche aus Erfahrung – wie zwei im Fond meines Autos liegengebliebene Äpfel, die so langsam vor sich hinfaulen. Reife, intensive Überreife, dazu noch süssliche Blumendüfte. Vielleicht wäre so das Parfum von McIntosh zu beschreiben – und das scheint nun mal in Europa – von einigen prominenten Ausnahmen abgesehen – auf keine Gegenliebe zu stossen. In den USA dagegen, vor allem an der Ostküste und in Neuengland, hat sich dieses Parfum in über 200 Jahren (ja so alt ist der McIntosh schon!) sozusagen ins kollektive Duftgedächtnis eingegraben und gehört eigentümlich zum Apfel. Nicht überraschend, das McIntosh und Mitglieder der McIntosh Sortengruppe an der Ostküste noch immer fleissig angebaut werden.
Damit gehört der Apfel McIntosh, der 1796 in Kanada von John McIntosh gefunden worden war, zu den ganz wenigen Tafeläpfeln, die auch 200 Jahre nach ihrer Findung immer noch eine relativ grosse Bedeutung haben. Überraschend, wenn man an die Veränderung der Konsumgewohnheiten – und des Zahnapparats denkt. Was 1796 wohl noch ziemlich fest und für fast Zahnlose eine Herausforderung war, ist heute weich ?
Blenden wir aber – zum Abschluss und Höhepunkt dieser Geschichte nochmals kurz zurück nach Europa, wo Goethe seinem Sekretär Eckermann am 1. Oktober 1827 folgendes erzählte: “Eine Luft, die Schiller wohltätig war, wirkte auf mich wie Gift. Eines Tages setzte ich mich an seinen Arbeitstisch, um mir dieses und jenes zu notieren. Ich hatte aber nicht lange gesessen, als ich von einem heimlichen Übelbefinden mich überschlichen fühlte, welches sich nach und nach steigerte, so dass ich endlich einer Ohnmacht nahe war. Ich wusste anfänglich nicht, welcher Ursache ich diesen elenden mir ganz ungewöhnlichen Zustand zuschreiben sollte, bis ich endlich bemerkte, dass aus einer Schieblade neben mir ein sehr fataler Geruch strömte. Als ich sie öffnete, fand ich zu meinem Erstaunen, dass sie voll fauler Äpfel war. Ich trat sogleich an ein Fenster und schöpfte frische Luft, worauf ich mich denn augenblicklich wiederhergestellt fühlte. Indes war seine Frau wieder hereingetreten, die mir sagte, dass die Schieblade immer mit faulen Äpfeln gefüllt sein müsse, indem dieser Geruch Schiller wohltue und er ohne ihn nicht leben und arbeiten könne.”
Goethe und Schiller hatten also nicht die gleichen Inspirationsquellen. Nie würd ich so weit gehen wie einige Interpreten, die in Schiller gleich einen süchtigen Ethylen-Schnüffler sehen. Goethe und Schiller hatten ganz einfach – wie in so manchen Dingen – unterschiedliche Geschmäcker. Was den einen (zum Schreiben) antörnte, machte dem anderen nur Brechreiz. Goethe beschäftigte sich ja auch lieber mit Farben (und auch das eher in theoretischer als praktischer Manier) als mit irdischen Düften. Nicht vorzustellen, was passiert wäre und was geschrieben worden wäre, hätte Schiller schon damals den parfümierten überseeischen McIntosh zur Verfügung gehabt (die zeitliche Abfolge hätte es theoretisch knapp zugelassen). So hätte er Äpfel zur Inspiration nicht nur lagern, sondern wahrhaftig essen können, ohne auf den Duft zu verzichten. Und Goethe – an Schillers Schreibtisch – wäre die Übelkeit erspart geblieben.
Und natürlich – sie haben es ja schon gelesen – liegen auch in meinem Auto und in meiner Schreibklause manchmal Äpfel herum. Manchmal auch Nachkommen des amerikanischen McIntosh.