Kürzlich berichtete der Bayer-Wissenschaftler Simon Mächling auf LinkedIn, dass die perfekte Tomate kurz vor der Türe stehe, zum Greifen nahe, wenn wir nur endlich der Gentechnik ihren freien Lauf lassen würden: Sie sei rund und schön und perfekt und immer gleich. Und sozusagen auf Knopfdruck, durch einen einfachen und von „natürlichen“ Vorgängen nicht unterscheidbaren gentechnischen Eingriff könne man die Tomatenfarbe variieren. In der Folge bestehe – so meine zugegebenermassen tendenziöse Zusammenfassung – für Tomatenliebhaber die frohe Hoffnung, dass sie bald schon die besten Tomaten wahlweise in Dunkelrot, Hellrot, Pink, Gestreift, Grün, Gelb, Orange und natürlich (natürlich?) auch in Blau kaufen könnten, dass aber alles andere vollkommen identisch bleibe. Das Resultat wäre eine Art Fake-Diversität… Ich muss allerdings zugeben, dass der Gedanke, die schöne neue Tomatenwelt des Simon Mächling auch etwas Faszinierendes hat: Diversität unter vollkommener Kontrolle. Diese Idee schient der Natur des menschlichen Denkens ziemlich nahe zu komme. In unseren Biotopen und renaturierten Landschaften soll ja auch Diversität herrschen, aber falls was Unerlaubtes wächst, muss es sofort entfernt werden.
Aber bleiben wir bei der Tomate: An ihrer Gleichheit und Uniformität ist die Tomate nämlich auch ein bisschen selber schuld: Eine Sorte, eine einzelne Pflanze liefert in der Regel wirklich sehr ähnliche Früchte, auch der Durchmesser ist häufig sehr einheitlich. Und der Grund dafür: Die Kulturtomate (das Resultat der menschlichen Beschäftigung mit der Tomate) ist in einem sehr hohen Masse (97-100%) selbstbestäubend, das heisst der Pollen der gleichen Blüte befruchtet den Stempel, das weibliche Organ der Blüte, lange bevor der Stempel durch die Pyramide der Stabbeutel nach draussen dringt und dort vom Pollen anderer Sorten bestäubt werden könnte. Freiwilliger Sexverzicht könnte man das auch nennen, wobei die Freiwilligkeit sehr relativ ist; es ist die Gestaltungsmacht des essenden und auswählenden und züchtenden Menschen, der zur Fast-Keuschheit der Tomaten geführt hat. Das machen sich dann die Züchter wie wir zunutze, die genau auf diesem Wege immer einheitlichere Sorten züchten. Dieser Prozess hat schon lange vor Simon Mächling und seinen feuchten Einheitlichkeitsträumen begonnen, er läuft wohl schon seit Jahrtausenden. Nur dass sich die Menschen damals nicht Züchter nannten, sondern einfach immer wieder die fruchtbarsten und am besten schmeckenden Tomaten assen, dann sammelten und schliesslich auch weitervermehrten.
Die bestäubenden Insekten kommen bei der Tomate in fast jedem Fall zu spät, wenn sie beim Nektarsammeln fremden Tomatenpollen transportieren; nur der Züchter kann früh genug mit einer Pinzette und einem scharfen Messerchen die noch geschlossenen kleinen Tomatenblüten öffnen, die Blütenblätter und die Staubfäden entfernen und dann händisch fremden Pollen auf den Tomatenstempel, auf die empfangsbereite Narbe bringen. Nur so, sozusagen künstlich, kann der Tomatenzüchter Diversität produzieren, die er dann im Selektionsprozess wieder eindampft, indem er nur von den besten Tomaten Samen gewinnt und die daraus entstehenden Pflanzen dann für 6-9 Generationen immer wieder selber befruchten lässt, bis die Tomate so gleich geworden ist, dass sie nach agronomischen Kriterien als Sorte durchgehen kann.
Denken wir die Tomatengeschichte noch ein bisschen weiter: Ohne Züchter sähe vielleicht auch das globale Schicksal des Paradeisers, der roten Paradiesfrucht ziemlich traurig aus. Sie würde sich immer nur reproduzieren, kaum vermischen und so gleich werden, wie es sich Simon Mächling erträumt. Zu Ende gedacht wäre das irgendwann …. das ENDE. Gleichheit hat bei sich verändernden Rahmenbedingungen nur wenig (verschiedene) Möglichkeiten zum Überleben. Es wäre dann für die Tomate nur zu hoffen, dass der natürliche Ausleseprozess, die Evolution irgendwann einmal (vielleicht nach dem Aussterben des Menschen) wieder Tomaten-„Sorten“ belohnen würde, die mehr Diversität produzieren. Sorten mit Blüten, die ihren Stempel schneller und noch jungfräulich nach draussen schicken und so auch fremdbefruchtet werden könnten. Solche neue Wildtomaten hätten dann vermutlich einen Vorteil gegenüber den von Menschen gezüchteten Paradeisern, weil sie sich laufend erneuern können, mehr Varianten produzieren und damit auch mehr Chancen zum Überleben gewinnen.
Natürlich könnt ihr in der Zwischenzeit – also bis zur skizzierten Zukunft der Tomate nach dem Menschenzeitalter – dem Einheitsfluch der Tomate entgehen, indem ihr möglichst viele verschiedene Sorten pflanzt. In unserem Lubera Pflanzen-Shop findet ihr ca. 40 davon, in der Samenkategorie sind es noch mehr. Eine lustige Methode besteht auch darin, dass man Samen von einer F1 Hybridsorte gewinnt (die in grünen und alternativen Gärtnerkreisen gerne verflucht wird), und diese aussäht. Und siehe da, aus der grösstmöglichen vom Menschen-gemachten Einheitlichkeit entstehen plötzlich wieder viele verschiedene Varianten – von denen ihr dann wieder auslesen könnt, was euch am besten gefällt. Und nach einigen Jahren beginnt sie dann wieder, die scheinbar unausweichliche Tendenz zur Einheitlichkeit…
Vielleicht wäre das eine neue Herausforderung für uns Tomatenzüchter: Gegen alles, was wir gelernt und verinnerlicht haben (eine Sorte muss stabil und einheitlich sein) Ausschau zu halten nach Tomaten, die Fremdbefruchtung, wenn vielleicht auch nur zu 30% zulassen.
Einen ähnlichen Weg sind wir bei den Chili gegangen. Als wir entdeckt haben, dass eine Sorte (Serbian Red) immer wieder unbotmässig auskreuzt (und fremden Pollen bereitwillig aufnimmt), aber dabei doch wichtig Eigenschaften (die Schärfe, die Fruchtbarkeit, häufig auch den kompakten Wuchs und die Pflanzengesundheit) behält, haben wir hier ganz gezielt ungezielt (ganz wollen wir ja die Kontrolle nicht verlieren) eine Population von unterschiedlichen Individuen ausgewählt, die wir weitervermehren und von denen wir Samen nehmen. Diese Mischsorte oder Landrassensorte – Hot Surprise – verkaufen wir ab sofort auch in unserem Shop. Wenn wir sehen, dass mehr Gärtnerinnen und Gärtner den Mut finden, Andersheit anstatt Gleichheit zu wählen und für einmal die Sortendefinition ad absurdum zu führen, ja dann müssen wir uns definitiv dranmachen, eine Tomate zu finden, die sich sexuell etwas promiskuitiver, etwas freizügiger verhält und den fremden männlichen Pollen und Genen eine Chance gibt.