Winnetou isst Äpfel. Oder doch etwas genauer: Winnetou hätte Äpfel essen müssen, hätte Karl May mehr über die Indianer und ihr Leben gewusst.
So wie wir in Europa sehr schnell (innerhalb von 100 bis 150 Jahren) lernten, dass die Kartoffel nicht nur schöne Blüten, sondern auch schmackhafte und vor allem nahrhafte Erdfrüchte produziert, so eigneten sich auch die nordamerikanischen Ureinwohner den Apfel an. Die Vorteile waren offensichtlich: Samen aussähen (gleich aus dem Trester des Apfelmosts), allenfalls die Pflanzung etwas schützen, und nach einigen Jahren wächst da eine fruchtbare Obstanlage. Die mehrjährige Kultur wird vor allem auch für nicht sesshafte oder halbsesshafte Lebensweisen von Vorteil gewesen sein: Man kehrt im Herbst zum Ort der gemeinsamen Obstanlage zurück, um die Früchte zu ernten. Die Ureinwohner praktizierten das genauso auch mit Pekannüssen und wohl auch mit einigen anderen einheimischen Nuss- und Fruchtbäumen (Pawpaw?).
Es gibt nur wenige Spuren dieser indianischen Apfelkultur, von der Helen Humphreys in ihrem Buch "The Ghost Orchard" (2017) berichten kann: einige Strassennamen, ganz wenige noch existierende Apfelsorten und doch überraschend viele Apfelnamen. Indian Rareripe, Equinetell, The Buff, The Nickajack, The Lawver, The Cullawhee, The Indiahoma, The Indian Winter, The Kittageskee, The Red Warrior, The Tillaque, the Wall, The Tell (sic). Ob die amerikanischen Ureinwohner von unserem Nationalhelden und seinen Schiesskünsten gewusst haben? Probierten sie mit Pfeil und Bogen aus, was Wilhelm Tell mit der Armbrust vollbracht hat (vollbracht haben soll)?
Die kenntliche, festgeschriebene oder tradierte Geschichte ist die Geschichte der Sieger. Mit dem Indian Removal Act 1830 schaffte sich das wachsende und rücksichtslos vitale weisse Nordamerika den legalistischen Vorwand, die Ureinwohner auf dem Weg nach Westen zu vertreiben und zu enteignen. Nicht zuletzt die Obstanlagen der Indianer waren das Ziel der weissen Siedler und des Militärs. Zu der Geschichte – und Geschichte besteht aus Geschichten – passt auch, dass man im neuen Siedlungsraum Parzellen für sich reservieren konnte, wenn man 50 Apfelbäume pflanzte. Ganz praktisch, wenn sie schon dastanden.
Eine Moral dieser Geschichte von den indianischen Äpfeln und "Indian Orchards" gibt's leider nicht – ausser, dass die Sieger gewinnen. Erstaunt kann man aber feststellen, wie attraktive Kulturpflanzen auch in der Fremde ganz schnell ihre möglichen Kultivateure überzeugen, ja bezirzen: Die Kartoffel die Europäer, die Äpfel die Indianer. Nur, dass die so schnell aufgebaute Apfelkultur der letzteren kurzerhand von den weissen Siedlern und Siegern usurpiert wurde.
Der Apfel selber war immer auf der Siegerseite: Ihm wurde von den Indianern neuer Raum und mehr Vielfalt (dank der schnellen und effizienten Vermehrung über Sämlinge), mehr Chancen und mehr Überlebensfähigkeit geschenkt – und diese Vielfalt wurde von den Siegern einfach übernommen und weiter vervielfältigt. Der Mittlere Westen der USA wurde im 19. Jahrhundert zum grössten Apfelzüchtungslabor der Geschichte, vergleichbar vielleicht nur mit dem genetischen Ursprungsgebiet des Kulturapfels in Kasachstan. Mit Apfelbäumen konnte Landbesitz gesichert werden, sie liefen nicht davon, man konnte zu ihnen zurückkehren, wenn sie reif waren. Apfelbäume lieferten Nahrung, Vitamin C und vor allem auch Alkohol, ohne den das Leben in der Wildnis nur schwer erträglich war. War das Feuerwasser der Karl May-Indianer in Wirklichkeit vielleicht doch Apfelmost?
Aber nun zu Ihrem Apfelbaum, liebe Leserinnen und Leser. Wenn er irgendwo unter seinen Vorfahren amerikanische Äpfel wie Golden Delicious, Rome Beauty, Red Delicious, Jonathan, McIntosh zählt, ist es gut möglich, dass er auf einen indianischen Apfel, einen Indian Orchard (wenn auch vielleicht nur einen gestohlenen Indian Orchard) zurückgeht. Pflanzen kennen keine Grenzen und zeigen keine kulturellen Hemmungen. Fremdenfeindlich sind sie auf keinen Fall.
Gärtnern Sie vorurteilsfrei weiter!
Markus Kobelt