Der Mensch hat ein ziemliches Problem mit dem …Menschen. Er erzählt seine eigene Geschichte gerne als Katastrophe. Da ist natürlich der Sündenfall, der uns aus dem Garten Eden vertreibt. Aber auch die Biologen und Urzeitforscher haben wenig Gutes zu erzählen.
Bei Jan Haft (Wildnis. Unser Traum von unberührter Natur) geht das ungefähr so:
Die ursprüngliche Wildnis, vor der menschlichen Dominanz, ist eine offene, diverse Landschaft. Flüsse mäandern durch die unabsehbaren Weiten, riesige Herden von Huf- und Groß-Säugetieren sorgen dafür, dass der dunkle Wald nicht überhandnimmt. In der diversen, abwechslungsreichen und dazu noch gut gedüngten Landschaft entwickelt sich eine riesige Diversität von Pflanzen und Tieren, Insekten, Käfern, Mikroorganismen. Es ist fast zu schön um wahr zu sein. Haft erwähnt zwar, dass die Herden von Bisons, Wasserbüffeln, Wildpferden und Auerochsen auch mal fast verhungern, aber insgesamt ist da wenig Katastrophe in seiner Erzählung. Unberührte idyllische Natur. Ach wie könnte es so schön sein ohne uns! Aber wer sähe dann die Schönheit?
Der Mensch erscheint im Holozän. Eigentlich schon viel früher, das Holozän beginnt vor ca. 11'700 Jahren, nach der letzten Kaltzeit. Aber im Holozän beginnt der Mensch zu dominieren. Fast überall, wo er auftaucht, rottet er schnell die gefräßigsten und größten seiner tierischen Konkurrenten aus, sein Hunger ist unstillbar. Die passenden und nützlichen Huftiere, Rinder und Pferde domestiziert er, macht er sich untertan. Mehr Wald entsteht, da die Riesenherden ihn nicht mehr zurückbeissen können. (Wildverbiss ist eine Tugend, kein Schaden, da könnte Jan Haft Recht haben.) Einen Teil der Aufgaben der Wildherden übernehmen die im Wald und in der weiteren Umgebung der Dörfer gehüteten domestizierten Tiere, gerne Rinder und Pferde, weniger gerne Schafe, da diese niedrige Pflanzen gerne mit Stumpf und Stiel ausrotten und so der Diversität entgegenstehen.
Jetzt gewinnt die Erzählung von Jan Haft an Geschwindigkeit, sie wird rasend schnell, überspringt Tausende von langen Jahren. Der Wald wächst. Der Wald wird auch gerodet, der Mensch braucht Holz für Bauten und Schiffe, Energie und Wärme. Also muss der Wald geschützt werden, er wird zum Ort der romantischen Wildnis, zu einer Projektion der seligmachenden Ursprünglichkeit. Zu einem ziemlich dunklen Paradies, das dazu noch wenig Diversität zeigt, dafür ist einfach zu wenig Licht. Es wird verboten, im Wald weiden zu lassen, die Haustiere landen in Ställen, ihr Futter wird separat produziert und zugeführt. Das Großwild im Wald wird gehegt und gepflegt, zur Not auch gefüttert. Bei zu viel Wildverbiss, der den Wald vielleicht wieder in eine offene und diverse Landschaft verwandeln würde, wird das Rotwild von Jägern dezimiert oder mit Zäunen von den jungen Bäumen ferngehalten. Jedenfalls ist der Wald keine Lösung für unseren Hunger nach unbefleckter Natur. ER ist zu sehr UNSER Wald.
Der Mensch braucht Platz, er braucht Raum, er baut und pflastert und teert. Und immer mehr wächst sein Traum von unberührter Natur. Je mehr Raum der Mensch der Natur nimmt, desto grösser wird sein Traum von ursprünglicher Wildnis. Aber auch diese Erzählung hat einen kleinen Defekt: Gehört der Mensch nicht auch zur Natur?
Es wird gerne renaturiert. Zur Not lagern wir die Fleischproduktion nach Argentinien aus und das Brot wächst in aufgetürmten Fabriken. Falls etwas in der naturierten Natur wächst, was dem ursprünglichen Traum entgegensteht oder – Gott bewahre – erst gerade kürzlich eingewandert ist, so muss es ausgerottet werden, runtergesäbelt, eigentlich ausgegraben und verbrannt. Weg damit! Die renaturierte Natur ist nichts anderes als ein menschenleerer Garten, so wie ihn der Mensch sich gerne vorstellt. Die Rolle der riesigen frei wandernden Huftiere und Wiederkäuer übernimmt der Gemeindeangestellte, wahlweise auch der dafür bezahlte Bauer oder der Parkwächter. Nur ER und die Umweltingenieure haben die Lizenz zum fachgerechten Naturieren. Sorry, aber besser vergessen wir das gerade wieder, eigentlich gibt es den Menschen ja gar nicht, er würde die Natur ja nur stören.
Jan Haft‘s Traum, sein kleines Idyll: In seinem 2 ha großen Garten in einer Feuchtlandschaft hält er zwei Wasserbüffel. Die Segnungen der Tiere sind äusserst vielfältig. Vögel tanzen auf ihren feuchten Rücken. Und erst ihr Dung! Sie produzieren pro Jahr das xy-fache ihres Körpergewichts an Exkrementen, schön säuberlich abgelegt in einigen Kilogramm schweren Haufen. Davon ernähren sich Mikroorganismen, darin nisten Käfer, daraus regeneriert sich die vorher zurückgefressene Vegetation. Friede, Freude, Eierkuchen. Und das voraussichtlich in alle Ewigkeit.
Nach der Erzählung von Jan Haft könnte jedenfalls die Nachfrage nach Wasserbüffeln steigen… Wer möchte nicht so ein Idyll, das die menschliche Katstrophengeschichte seit dem Sündenfall vergessen lässt?
Aber wie soll das gehen? Ganz offensichtlich haben wir nicht den Platz dazu. Also müssen Naturschutzgebiete her, in denen die Grosstiere wieder weiden können und den Wald zurückhalten. Am besten natürlich in Afrika oder in Rumänien. Irgendjemand muss ja die gute Arbeit tun und die naturierte Natur managen…
Der Mensch erscheint im Holozän. Seine Katastrophengeschichte hat auch etwas Lächerliches: ER denkt sich weg, obwohl er alles dominiert. ER möchte sich sozusagen aus der Verantwortung schleichen, indem er sich kleinmacht oder eben Naturreservate und Renaturierungsflächen ausweist. Wie geht das Kinderspiel? Ich verdecke meine Augen und sehe nichts, dann werdet ihr mich wohl auch nicht sehen. Ich bin nicht hier, obwohl ich hier bin.
Selbstverständlich weiß ich auch nicht, wie man die Geschichte des Menschen und der Natur gut zu Ende oder noch lieber unendlich weitererzählen könnte. Aber irgendwie geht mir der Garten nicht aus dem Sinn. Letztlich gibt es keinen Unterschied zwischen einer Disneypark-Wildnis, einer renaturierten Fläche und einem hundskommunen guten Garten. Bei letzterem geben wir immerhin offen zu, dass wir ihn bestimmen. Und er ist kein Traum, dazu dezentral, verstreut, auch im Kleinen auf Balkon und Terrasse, vielleicht sogar in der Wohnung möglich. Wir schaffen im Garten, gerne im permakulturellen Garten, auch ohne Groß-Säugetiere genau die richtige Landschaft für Diversität: Bäume und Sträucher, Öffnungen, Räume, Licht und Schatten. Wilde Wiesen. An der Sache mit der Unordnung (ein bisschen wenigstens) müssen wir noch arbeiten. Und über den Rasen diskutieren wir jetzt lieber nicht. Wie die wilden Herbivoren, die Bisons, Wasserbüffel, Waldelefanten, Auerochsen und Breitstirnelche schneiden wir zurück, was das Zeug hält, damit der Wald nicht überhand nehme (und damit die grüne Tonne gefüllt werde). Für den Dung und seine Segnungen, dafür müssen wir uns noch etwas einfallen lassen. Wie wär‘s vielleicht mit …Kompost?
Der Mensch erscheint im Garten.
PS: Das Buch von Jan Haft: Wildnis. Unser Traum von unberührter Natur kann ich nur empfehlen. Es ist letztlich eine große Erzählung vom Menschen und von der Natur, von einem Sündenfall der anderen Art. Den schönen Titel »Der Mensch erscheint im Holozän« habe ich übrigens auch geklaut. Die gleichnamige Erzählung von Max Frisch (noch mehr zu empfehlen!) erzählt eine andere Geschichte von der Natur und vom Menschen. Aufgrund einer Naturkatastrophe ist ein alter Mann in einem Tal eingeschlossen, mit sich selber … bedrängt von den Naturgewalten und vom eigenen Alter, wohl auch von der Demenz, beginnt er sein menschliches Wissen zu retten, aufzuschreiben, in Zetteln an die Wand zu heften, unter anderem eben den Satz: Der Mensch erscheint im Holozän.