Als Gärtner bin ich offenbar nicht ganz auf der Höhe der Zeit. Kürzlich habe ich doch zum ersten Mal in einem unserer Texte ein Gendersternchen gesehen, geschrieben von einer Praktikant*in. Natürlich habe ich die Bildungslücke gleich gefüllt und mich kundig gemacht: Das sogenannte Gendersternchen, das aus der politisch so korrekten angelsächsischen Welt zu uns rüberschwappt, soll auf die anderen möglichen Geschlechter/Gender neben Männchen und Weibchen hinweisen. Gender – so habe ich auch gelernt – sei dann nicht genau das gleiche wie Sex, das biologische Geschlecht, sondern bezeichne das geschlechtliche Selbstverständnis. Na ja, der Unterschied ist mir so ganz nicht geläufig, aber zu Ende gedacht bedeutet das wohl, dass es letztlich ungefähr so viele Gender wie Menschen gibt. Und diese Banalität wird jetzt mit einem Sternchen bedacht.
Inhaltsverzeichnis
Die Pflanz*innen
Natürlich habe ich mein neuerworbenes Wissen gleich auf die Pflanzen übertragen: DIE Pflanze, DIE Himbeere, DIE Erdbeere, das geht ja wohl gar nicht! Zur Diskussion stehen in einer korrekteren Welt Pflanz*innen und Himbeer*innen, sowie Erdbeer:innen. Ja auch ein Doppelpunkt anstelle eines Sternchens wird vorgeschlagen, um uns alle in die heile Welt der politischen Korrektheit zu befördern.
Wie aber steht es tatsächlich um Sex und Gender in der Pflanzenwelt?
Der Mehrheitssex
Auch bei den Pflanzen gibt es einen Mehrheitssex, aber dazu auch Minderheiten fast ohne Ende. Die meisten Blütenpflanzen tragen die männlichen und weiblichen Organe auf einer Pflanze, ja sogar auf der gleichen Blüte. Sex auf die ganz praktische Art, so könnte man meinen, aber dem ist nicht so. Würde Sex mit sich selber so einfach funktionieren, wäre es bald dahin mit der Pflanzenherrlichkeit. Inzucht führt zur genetischen Verarmung, letztlich zur Auslöschung einer Art. Gut, dass das Inzestverbot bei den Pflanzen deshalb ziemlich robust eingebaut ist: Pollenkörner einer Pflanze können auf der Narbe der gleichen Pflanze entweder nicht keimen, oder der Keimschlauch wächst zu langsam, oder am Schluss funktioniert die Befruchtung nicht wirklich. Beispiele für diesen Mehrheitssex inklusive Inzestverbot finden wir bei vielen Obstbäumen, bei Kirschen, Äpfeln, Birnen usw. Die Selbstfruchtbarkeit dagegen ist ein Unfall der Natur, meist einer natürlichen Mutation geschuldet, und entdeckt und vermehrt in der Regel vom Menschen, der es auf einfache Befruchtungsverhältnisse und hohe Erträge abgesehen hat: Die Tomate war eigentlich immer eine selbstunfruchtbare Pflanzenart, erst die Domestizierung durch den Menschen, der nur auf seinen lustvollen Vorteil aus ist, hat daraus eine superfruchtbare selbstfruchtbare Pflanze gemacht.
Sex- und Genderdiversität bei Pflanzen
Nach dem Mehrheitssex beginnt aber das Pflanzengendern erst richtig: rein weibliche und rein männliche Blüten getrennt, auf der gleichen Pflanze oder auch auf separaten Pflanzen. Ganz sauber getrennte Verhältnisse gibt es beispielsweise beim Sanddorn, mit männlichen und weiblichen Pflanzen. Aber schaut man etwas genauer hin, so verschwimmen die Grenzen. Das Männchen/Weibchen-Schema, das wir (fast alle) bei den Kaninchen gelernt haben, verschwimmt im Ungefähren: Bei vielen vermeintlich rein weiblichen und rein weiblichen Pflanzen sind die jeweils anderen Geschlechtsorgane durchaus vorhanden, nur verkümmert. Die sogenannten selbstfruchtbaren Kiwis haben Blüten, die eigentlich ziemlich männlich aussehen (mit einer Überzahl an Staubfäden), die Früchte entstehen aber aus den verkümmerten weiblichen Organen, wobei der Fruchtansatz parthenokarp, also ohne sexuelle Befruchtung erfolgt. Wie bitte? Ja, nochmals auf Deutsch: Eigentlich männlich ausgerichtete Blüten tragen Früchte, ohne dass es vorher zu einer Befruchtung gekommen ist. Da können wir Menschen wirklich nicht mehr mithalten…
Bei vielen Maulbeeren kann es rein weibliche und rein weibliche Bäume geben (mit jeweils eingeschlechtlichen Blüten), aber beide Geschlechter können auch auf einer Pflanze auftreten. Bei vielen Maulbeerenarten und Sorten scheint aber zusätzlich die Parthenokarpie zu überwiegen, der Fruchtansatz ohne Befruchtung, zweifellos wieder das Resultat der menschlichen Vorliebe für viele und grosse Früchte. Wenn man dabei auf den unzuverlässigen Sex verzichten kann, umso besser…
Sex und Vermehrung
Zumindest bei den Pflanzen ist klar, dass Sex und Gender auch etwas mit Vermehrung und Überleben zu tun haben. Ob die Pflanze dabei auch so etwas wie Freude und Lust empfindet, entzieht sich meiner Kenntnis. Stefano Mancuso würde die Frage aber sicher bejahen. Irgendwie muss die Pflanze ja auch einen eigenen, individuellen Antrieb haben, alles für das eigene Überleben (nach sich) zu unternehmen. Und wenn es ums Überleben und Vermehren geht, da sind die Pflanzen wirklich ziemlich einfallsreich: Viele Zitrusarten produzieren eine Vielzahl von Samen gleich als Kopie des weiblichen Genoms (endlich: das echte genetische Matriarchat), Pawpaw können an ihren ursprünglichen Standorten über Wurzelausläufer genetisch identische Pflanzencluster von einigen 100 m Durchmesser bilden, die dornige Brombeere Rubus armeniacus bewurzelt jede Triebspitze, die den Boden berührt, was ihr in der Schweiz ein Verbot eingebracht hat.
Beim echten Bambus, dem Phyllostachys, mag man die fast unstoppbare Vermehrungs- und Ausbreitungsfreude ja noch damit entschuldigen, dass er fast nie blüht (also Wuchsstärke als Kompensation für Sex?). Es ist aber durchaus normal, dass die Pflanzen ihre Vermehrungsrisiken "hedgen", absichern, indem sie diverse Sexarten, aber auch zusätzliche vegetative Vermehrungsformen kombinieren. Mehr bringt mehr, scheint die einfach, aber durchaus nachvollziehbare Denkweise der Pflanzen zu sein.
Die Rolle der Kuppler
Kuppler kommen in der menschlichen Wertschätzung ungefähr gleich nach den Zuhältern. Sie sind aber in der Pflanzenwelt nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Sex und Befruchtung, letztlich auch Vermehrung wird von Dritten vermittelt, ermöglicht, manchmal gleich ganzheitlich übernommen. Der Wind, das himmlische Kind hilft Windbestäubern bei der Befruchtung. Die Windbestäuberpflanzen ihrerseits erhöhen ihre Chancen, indem sie unglaubliche Mengen von Pollenstaub produzieren. Die Insekten sind in den letzten Jahren für ihr gottgefällig Werk gebührend gewürdigt worden, obwohl sie mit ihren Kupplerdiensten durchaus auch eigennützige Ziele und Zwecke verfolgen. Wer da wen benutzt oder gar missbraucht, ist weitgehend ungeklärt. Jedenfalls ist man gut beraten, die Schlauheit der Pflanzen nicht zu unterschätzen.
Die Schlauheit der Pflanzen
Die Befruchterwespe der Feigen (Blastophaga) vermehrt sich in der Bocksfeige, das sind letztlich Urfeigen, mit kurzstieligen männlichen und weiblichen Blüten. Zur Erklärung, die Blüten der Feigen befinden sich im Inneren der jungen Früchte; die Feige ist eigentlich nichts anders als ein gegen innen zusammengefalteter Blütenboden.
In dieser Urfeige/Bocksfeige feiern die weiblichen und männlichen Blastophagen auch ihre Hochzeitsnacht. Die trächtigen Weibchen nehmen beim Rausschlüpfen aus der Bocksfeige eine Portion Pollen mit, die am Ausgang der Feige von männlichen Blüten bereitgehalten wird. Wenn dann die Befruchterwespe, verführt von den grossfrüchtigen Fruchtfeigen, in diesen ihre Eier ablegen will, so scheitert sie jämmerlich, da ihr Legestachel zu kurz ist. Im Gegensatz zu den Bocksfeigen haben die Fruchtfeigen viel längere Blütenstände entwickelt (die dann später das saftige Fruchtfleisch ergeben). Die Befruchtungsfeige kommt elendiglich zu Tode, ohne für ihre eigene Vermehrung gesorgt zu haben, ermöglicht aber gerade damit die Befruchtung der Feige. Indem die Befruchterwespe ebenso nervös wie erfolglos ihre Eier abzulegen versucht, befruchtet sie die weiblichen Fruchtblüten der Essfeigen mit männlichem Pollen…Ja, das ist fast schon tragisch.
Und die Feige im Norden, nördlich der Alpen, wo die Befruchtungswespe gar nicht überleben kann? Die nördliche Feige hat sich einen anderen begabten, und hoffentlich weniger tragisch endenden Kuppler gesucht: den Menschen. Der hilft jetzt aber gar nicht mehr wie im Süden beim hochkomplizierten Feigensex (wo der Mensch Capri Feigen voll von Wespen in die Fruchtfeigenbäume hängt), nein, hier übernimmt er, verführt und bezahlt von den leckeren grossen parthenokarp entstehenden Feigenfrüchten, gleich selber die ganze Vermehrung der Feigenpflanzen. Was auf den ersten Blick ein bisschen absurd scheint, ist in der Pflanzenwelt gar nicht so selten: Die Pflanze überlebt nur noch dank des Menschen, mit dem sie (gleich wie mit vielen Insekten) über Tausende von Jahren eine Symbiose eingegangen ist. Auch der Mais, eine Brot- und Butterpflanze der modernen Zivilisation, könnte ohne den Menschen gar nicht überleben. Es wäre wohl vorschnell, hier einen klaren Sieger ausfindig zu machen zu wollen, offenbar rentiert sich die Arbeitsteilung für beide Seiten: Ich helfe dir bei der Vermehrung; du bietest mir deine leckeren Früchte.
Sex und Gender bei Granatäpfeln
Gibt es die Unterscheidung Sex/Gender auch bei den Pflanzen? Erinnern Sie sich: Gender wäre demnach das geschlechtliche Selbstverständnis einer Gruppe oder eines Individuums. Selbstverständnis bei Pflanzen? Haben wir nicht gelernt, dass diese Fähigkeit zur Selbstreflexion gerade den Unterschied des Menschen zu anderen Lebensformen ausmacht. – Aber genau gesehen scheinen sich einige Pflanzen durchaus zu überlegen, mit welchem Sex sie sich ausstatten wollen. Wäre das dann nicht so etwas wie ein Genderbewusstsein? Der Granatapfelbaum entscheidet sich beispielsweise nach Lust und Laune, ob er männliche Blüten oder die aufwändigeren zwittrigen Blüten ausbilden soll. Dabei scheinen Lebensalter, Umwelt, Ernährung und Temperatur eine wichtige Rolle zu spielen – aber es bleibt ein Rest, den man durchaus der Selbstentscheidung, einer Art der pflanzlichen Reflexion zuordnen könnte.
Es lebe die Vielfalt
Wir müssen zum Schluss kommen, auch über die Ostern sollten unsere Leser ja noch anderes tun, als mit mir lustvoll über Pflanzen zu gendern: Die Vielfalt der Pflanzen und ihre Kreativität beim Gendern können es durchaus mit der sexuellen und gendermässigen Diversität beim Menschen aufnehmen. Bei der Vermehrungsfähigkeit scheint der Mensch etwas beschränkter zu sein, wobei ja auch gewisse Pflanzen ihre Vermehrung frohgemut an Dritte und andere delegieren. Wollte man hier aber ganz auf Augenhöhe mit den cleveren Pflanzen agieren, müsste man wohl das Klonen zulassen… Es ist schon ziemlich eigenartig, zu was für Folgerungen einen das fröhliche Pflanzen-Gendern animiert…
Und das Leben funktioniert!
Zum Abschuss eine kleine Geschichte: Mir ist schon immer aufgefallen, dass vor allem die Angelsachsen vom Pflanzensex ziemlich besessen sind. Gendern mit Pflanzen ist da die Leidenschaft der Botaniker und auch der Garten- und Pflanzenjournalisten. Wir können nicht mal einen neuen Apfel züchten und auf den Markt bringen, ohne dass die unausweichliche Frage der englischen Gartenjournalisten auftaucht: Wie aber funktioniert die Befruchtung? Um sich die selber gestellte Frage zu beantworten, haben die Engländer sogar ein ziemlich kompliziertes und vor allem unnützes System von Befruchtungsgruppen beim Apfel entwickelt. Das wäre, um einen passenden Vergleich zu finden, etwa gleich sinnvoll, wie die Ostereier zu suchen und zu finden, die man vorher versteckt hat.
Also wie ist das jetzt beim Apfel?
Na ja, der Sex funktioniert ganz einfach. Noch gibt es hierzulande, aber auch in England so viele und so diverse Apfelbäume (und auch Birnbäume), dass die Insekten zur Blütezeit immer mehr als genug (fremden) Pollen (von anderen Sorten) auf sich tragen.
Schluss
Vielleicht geht es auch gar nicht um Sex und Gender bei Pflanzen und Menschen. Viel wichtiger ist die Vielfalt. Konventionelle Zeichen, ob Sternchen der Doppelpunkt, sind per definitionem einfältig, das Gegenteil von Vielfalt. Darum habe ich ja jetzt gerade nicht nur ein Sternchen getippt...
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...sondern einen Text von über 10 000 Zeichen, der noch unendlich viel länger sein könnte.
Es ist die Vielfalt, die am Ende funktioniert. Irgendwie.
Warum?