Wir haben hier von einer neuen Krankheit, einer fast schon unheilbaren Seuche zu berichten: Von der Wurzelangst. Was das ist? Na ja, die Angst vor Wurzeln. Die Platzangst kennen wir, aber Wikipedia zählt nur schon unter dem Buchstaben A eine unglaubliche Menge von weiteren Phobien auf. Eine kleine Auswahl gefällig? Keine Angst, wir hören bei A dann auch schon auf.
Inhaltsverzeichnis
Die Achluophobie, die Dunkelangst.
Die Agoraphobie, die Welt- und Reiseangst, die umgekehrte Platzangst.
Natürlich die Arachnophobie, die Spinnenangst. Entweder haben alle zu viel Gotthelf gelesen. Oder den armen Spinnern werden ihre vielen Beine zum Verhängnis. Oder ist es eher das Spinnennetz, aus dem wir uns in unseren Träumen nicht mehr befreien können?
Die Aidsphobie, na ja, die ist ja ziemlich von gestern. Hat aber mindestens zwei Generationen geprägt.
Als gleichwertigen Ersatz können wir aktuell die COVID-Phobie anbieten. Aber das wäre dann ja erst unter C…
Zurück also zu A:
Die Ailurophobie, die Katzenangst. Soll es geben. Wie die Hundeangst.
Die Androphobie, die zuweilen durchaus berechtigte Angst vor dem Mann, wohl vor dem Mann im Manne.
Die Anthropophobie, die Angst vor dem Menschen (vor uns selber!) ist schlussendlich – ja, obwohl wir erst bei A sind – von allen Ängsten am meisten berechtigt, kommt aber in Tat und Wahrheit fast nie vor, da wir unsere Ängste fast ausschliesslich gegen aussen projizieren. Nicht A wie Anthropos, der Mensch ist schuld, sondern alles andere, von A bis Z.
Mit der Astrophobie, der Angst vor Blitz und Donner mag diese kleine Auswahl-Horrorshow als abgeschlossen gelten, da kommt auch von B bis Z eigentlich nichts Neues mehr. Die Grundlage, die Wurzel vieler, fast aller Ängste ist die berechtigte Angst des Menschen vor sich selber – unkenntlich gemacht und auf alles andere übertragen.
Die Wurzelangst wollen wir uns aber jetzt doch noch etwas genauer anschauen.
1. Die Wurzelangst – Krankheit und Symptome
Die Wurzel allen Übels ist die Wurzel.
Wurzeln wachsen ungehindert, als gäbe es kein Zurück, sie dringen aggressiv in fremde Territorien vor, brechen Stein und Bein, Beton bis Glas. Sie bringen in ihrem ruchlosen Vorwärtsdrang, mit ihrer Sprengkraft sogar Mauern zum Einstürzen, wobei sie es bösartigerweise vor allem auf alte, rissige Mauern und Fundamente abgesehen haben. Eigentlich ist es eine Zumutung, aber manchmal – auf der Suche nach Wasser, und frisch mineralisierten Nährstoffen und überhaupt freiem Raum – werden die Wurzeln grösser als die überirdischen Teile der Pflanze. Und das Allerschlimmste: Man sieht sie nicht, sie wirken klandestin, im Verborgenen – bis dann die Mauern fallen, der Beton bricht und der Asphalt aufreisst – bis die Welt fast untergeht.
Die Symptome der Wurzelangst zeigen sich am deutlichsten auf unserer Frageplattform auf Lubera: Immer häufiger sollen wir die Wurzeln von fast allen Pflanzen charakterisieren, nicht den Geschmack, den Duft, die Farbe, die Ernte - nein, nur die Wurzeln! Sind es Flachwurzler, Tiefwurzler, Herzwurzler, tiefe Flachwurzler oder flache Herzwurzler, wie weit (bitte wenn möglich auf den cm genau) kann eine Wurzel ausgreifen, und sind dann meine Hauswand, die Garage, der Velounterstand, der Strassenbelag, die Umwelt gefährdet? Die Frage gehen umso leichter von den Lippen und von der Tastatur, als man noch nie mit eigenen Händen Wurzeln ausgegraben, ausgeschüttelt, gestreichelt oder auch brutal abgeschnitten hat. Und von wegen Tief- und Flachwurzler... Darum geht es gar nicht. Ganz klar wird bei all diesen Fragen das angestrebte Ideal: Eine Pflanze ohne Wurzeln!
Ich kann es schon gar nicht mehr lesen und hören. Die Wurzelbesessenheit ist schon länger ausgebrochen, fing irgendwie mit dem Bambus-Hype an und pflanzte sich gefühlt über alle Pflanzenarten fort, die nun allesamt unter einem grundsätzlichen Wurzelverdacht zu stehen scheinen. Vielleicht wird auch diese Angst durch COVID 19 nochmals stärker, in einer Art Neidreaktion: Wenn wir schon eingeschlossen sind, mögen wir auch den Wurzeln keinen Auslauf mehr gönnen.
Die Wurzelangst macht vor fast gar nichts halt, kennt selber keine Grenzen mehr, überwuchert den Pflanzendiskurs: Braucht die Sonnenblume vielleicht doch einen Wurzelsperre, da sie doch der gleichen Familie wie die Topinambur angehört? Sanddorn, Brombeeren, Himbeeren, Vierbeeren, bald bei fast allen Pflanzen wird intensiver über die Wurzelsperre und andere Gefängnisvarianten nachgedacht als über ihre wunderbaren Früchte. Pflanzen haben sich bittschön über- und unterirdisch gut zu benehmen, sonst kommen sie ins Korsett.
2. Die Wurzeln der Wurzelphobie
Nachdem sich mein Ärger über die Wurzelfragen gelegt hat, denke ich gerne über die Gründe, die Wurzeln der Wurzelphobie nach. So richtig fündig werde ich nicht. Es müssen jedenfalls viele Gründe sein:
- Wurzeln sind dreckig, im Dreck. Wir machen uns ungern die Hände schmutzig.
- Wurzeln sieht man nicht. Was man nicht sieht, gibt es nicht, darf es nicht geben.
- Wurzeln sind wie Pflanzen und überhaupt alles Leben eine Gefahr, dazu eine unkalkulierbare – siehe nächster Punkt
- Menschen können eigentlich nicht mit unsichtbaren Gefahren umgehen. Eigentlich können wir gar nicht mit vermeintlichen oder auch unvermeidlichen Gefahren umgehen… Sobald etwas mal als Gefahr identifiziert ist, neigen wir entweder zu Übertreibungen oder zu Untertreibungen. Der gesunde Menschenverstand ist ausgeschaltet, entwurzelt sozusagen. Die COVID 19 Epidemie existiert gar nicht, ODER bestimmt ganzheitlich über alles Leben und jeden Tod. Oder ebenso aktuell: Die Impfung wirkt/gar nicht.
- Das alles hat mit einer entwickelten oder eben unterentwickelten Form der Dyskalkulie zu tun, der Unfähigkeit, mit Statistik und Wahrscheinlichkeiten umzugehen. Ja, das ist auch bei den Wurzeln so: Wie viele Häuser bringen Wurzeln zum Einsturz? Pro Jahr? Pro Land? Und welchen absoluten beschreibenden Realitätsgehalt haben Unglücks- & Verbrechensseiten?
- Engegefühl und Anthropozentrismus: Wir Menschen fühlen uns beengt und möchten keinem anderen Leben ausser uns Platz gönnen. Und schon gar nicht den unsichtbaren, offensichtlich unnützen Wurzeln. Obwohl wir von diesem anderen Leben abhängen.
- Pflanzenangst, eine entwickelte Form der Wurzelangst: Wurzeln und dann noch mehr die gefürchteten Wurzelschosse haben auch etwas mit der Pflanzenvermehrung zu tun, in diesem Falle mit der vegetativen Pflanzenvermehrung. Pflanzen, die vital sind und sich vermehren, die daher auch erfolgreich sind, sind grundsätzlich suspekt. Der Reproduktionsfaktor muss ganzheitlich unter 1x sinken, wenn wir überleben wollen. Das haben wir ja jetzt definitiv gelernt…
- Die Hatz auf invasive Neophyten, die längst in der Mitte der Pflanzenwelt angekommen ist, ist ein Ausdruck dieser Pflanzenangst. Die Angst scheint mit Bildern von allesfressenden Pflanzenungetümen zu tun zu haben, die Gebäude zum Einstürzen bringen und das doch so schöne biologische Gleichgewicht, den ewigen Frieden unter Gottes Geschöpfen bedrohen. Der Horrorfilm ist eigentlich längst schon gedreht und verinnerlicht, er prägt unsere versteckten Pflanzengefühle, er verdächtigt jeden Pflanzenhorst, in Tat und Wahrheit eine Zeitbombe zu sein.
- Der Topf: Mea culpa, möchte man da als Gärtner und als Topfpflanzenproduzent sagen. Wir sind es, die mit dem Topf die Pflanze beherrschbar gemacht und sie ihrer wildesten und ausufernsten Organe ganz oder teilweise beraubt haben. Jetzt möchte man die voll kontrollierte Pflanze im Topf im liebsten auch im Gartenboden. Darum braucht es überall Wurzelsperren.
3. Eine kleine Wurzelbehandlung
Pflanzen haben Wurzeln, fast immer jedenfalls. Akzeptiert das bitte! Ansonsten legt doch lieber einen Kiesgarten an. Als liberaler Mensch kann ich das häufig geforderte und manchmal schon umgesetzte Verbot von Kiesgärten sowieso nicht akzeptieren: Kiesgärten haben einen echten USP, sie bedienen eine offensichtliche Marktlücke: Ideal für Menschen mit Wurzelphobie.
Die Wurzeln sind…. die Wurzeln der Pflanzen. Ihr Grund, ihre Basis, ohne sie geht nur wenig. Sie sind übrigens meist sensibler, kommunikativer, flexibler und auch beweglicher als die oberirdischen Pflanzenorgane. Wurzeln sind das reinste Wunder. Lasst bitte den Wurzeln ihre Freiheit! Und wenn da irgendwo ein kleines Wurzelschösschen erscheint, oder wenn sich gar eine 30jährige Gartenplatte leicht hebt – geniesst es! Es ist die Kraft der Wurzeln.
Natürlich dürfen wir jäten, ausreissen, abschneiden. Ich habe jedenfalls kein Problem damit, wenn wir den Pflanzen so zu Leibe rücken. Wir müssen ja mit ihnen irgendwie zurechtkommen. Was ich nicht akzeptieren kann: Dass man alle Pflanzen einsperren muss.
Es gibt nur ganz wenige Pflanzen, die wirklich eine Wurzelsperre brauchen. Der echte Bambus (Phyllostachys) ist das Paradebeispiel. In der Regel würde ich Pflanzen, die wirklich eine Wurzelsperre brauchen – ganz einfach nicht pflanzen. Und noch ein Missverständnis ist zu berichtigen: Horstbildende Pflanzen sind (siehe oben) keine tickenden Zeitbomben, die am Anfang nur einige cm pro Jahr wachsen und am Schluss wie in einem Horrorfilm kilometerweise Land besetzen, unaufhaltsam, exponentiell. Man kann Horste jederzeit wieder einschränken, indem man Teile davon ausgräbt. In vielen Fällen gehen Pflanzenhorste irgendwann auch an sich selber zugrunde, indem ihre alten, zu dichten Teile absterben.
Und nein, Erdbeeren und Brombeeren und Erdbeeren mit ihren unglaublich 'aggressiven Ausläufern' brauchen grundsätzlich keine Wurzelsperre. Der schlechte Ruf der Brombeeren hat übrigens ganz und gar nichts mit ihren Wurzeln zu tun, sondern ist nur der Tatsache geschuldet, dass sich die alten dornigen Brombeeren (wie Theodor Reimers) an den (auf dem Boden liegenden) Triebspitzen bewurzeln, und dort eine neue Pflanze bilden. Dies machen aber nur rankend wachsenden Brombeeren (trailing blackberries), unsere Navaho® Brombeeren beispielsweise sind aufrechtwachsend und bewurzeln sich... nirgendwo.
Und wer jetzt immer noch Angst vor den Wurzeln hat, dem empfehlen wir eine ganz einfache Wurzelbehandlung: Ein Topf in einem Kiesgarten – sorry: AUF einem Kiesgarten, nicht dass er noch Wurzeln treibt – macht sich auch ganz gut.