Es ist in der industriellen Forschung und Entwicklung wie auch in der Pflanzenzüchtung einfach, in die Zukunft zu schauen, wenn man weiss, wohin der Weg geht: noch ein bisschen schneller, noch ein bisschen grösser, noch ein bisschen besser schmeckend, besser funktionierend, resistenter, einfacher zu kultivieren. Und dieses “Bisschen” ist ein ziemlich grosses Projekt: Fast alles in unseren Züchtungsprogrammen und fast die gesamte Pflanzenzüchtung überhaupt sind auf dieses “Bisschen” ausgelegt.
Aber was ist und wie geht das, wenn man nicht weiss, wohin es geht? Wie lässt sich eine revolutionäre oder disruptive Entwicklung voraussehen? Wie kommt das, wovon man eben nicht weiss, dass und wie es kommt?
Diese Grundfrage beschäftigt letztlich alle Erfinder, und muss deshalb auch die Züchter beschäftigen. Schon von der speziellen Situation her, dass sie nicht aus nichts etwas schaffen, dass sie nicht mit einem leeren Blatt Papier beginnen, sondern mit Elternpflanzen, sind sie besonders gefährdet, immer nur evolutionär zu denken, also züchterisch etwas zu beschleunigen, was die Evolution seit Jahrmillionen schon macht: Pflanzen (und Menschen und Tiere) für alle Spielteilnehmer (auch für die Pflanzen selber) etwas produktiver und effizienter zu machen. Das ist extrem wichtig und auch schwierig genug – aber ist das alles, was Züchtung erreichen kann?
Schauen wir uns den Fall der disruptiven Entwicklung noch etwas genauer an. Es ist ein typisches Kennzeichen einer solchen Disruption, dass alle anderen Wege als eben die revolutionäre Entwicklung im Nachhinein fast schon lächerlich erscheinen. Genau diese Lächerlichkeit der alten Postkutschen hört man auch aus dem berühmten Zitat Henry Fords heraus: “Wenn ich die Menschen gefragt hätte, was sie wollen, hätten sie gesagt, schnellere Pferde.” Aber wie konnte er wissen, dass es nicht die schnelleren Pferde sein würden, sondern die Autos? Typisch für die Disruption ist auch, dass wir uns eine Situation ohne die Disruption im Nachhinein fast nicht vorstellen können, aber vor der Disruption ist es genau umgekehrt: Die grosse Mehrheit verbleibt bei den eingefahrenen Denkmustern und kann sich die lärmenden und stinkenden, dafür aber auch nicht mehr scheissenden Autos sogar dann noch nicht vorstellen, wenn sie ihren Siegeszug bereits angetreten haben. Oder denken Sie an Ihre eigenen Lebenserfahrungen zurück: Ein Leben ohne Handy, ohne Internet? Unvorstellbar! Unmöglich!
Ein solcher Revolutionär, der heute viel von sich reden macht, ist Elon Musk, einer der Gründer von Paypal, CEO und Gründer von Tesla, SpaceX, Hyperloop und Initiator von vielen anderen ziemlich verrückten Ideen.
Natürlich kann man im Nachhinein vielleicht manchmal sagen, dass auch er nur die normale Entwicklung etwas beschleunigt, sein Tesla ist immer noch ein Auto, wenn auch (irgendwann) selbstfahrend und mit Elektro-Antrieb. Aber mir scheint seine Hyperaktivität ziemlich typisch: Der revolutionäre Innovator, der versucht, die Disruption systematisch anzunähern und anzugehen, weiss, dass er viele Versuche braucht, um das Richtige zu treffen, das man eben im Voraus nicht kennt. Das meiste wird schief gehen oder in der Versenkung verschwinden.
So, und jetzt habe ich ein Problem: Ich muss das jetzt in der Züchtung anwenden, ohne gleich als verrückt angesehen zu werden, oder als übermütig ? Henry Ford, Elon Musk – was haben diese alten und jungen Heeren bitte mit Pflanzenzüchtung zu tun? Uns Pflanzenmenschen fehlt es ganz offensichtlich an (un-) gesundem Selbstvertrauen, und wir haben längst schon vergessen, dass es nur gut 100 Jahre her ist, dass Namen wie Henry Ford in einem Atemzug mit Luther Burbank genannt wurden.
Der Pflanzenzüchter Burbank war eine ziemlich auffällige Figur (ich habe ja auch schon über ihn geschrieben): Meist war er mit der evolutionären Züchtung beschäftigt (die er aber gekonnt als Revolutionen verkaufte - auch das muss man können!), aber wie Elon Musk unternahm er gleichzeitig so viele naheliegende und auch abseitige Züchtungs – und Innovationsversuche, dass zwischendurch auch Revolutionen gelangen: Die Japanischen Salicina Pflaumen und ihre Hybriden, die er nach Kalifornien brachte und züchterisch adaptierte, beherrschen heute den Weltmarkt; seine weisse Brombeere dagegen verschwand wieder in der Versenkung; und am dornenlosen Fruchtkaktus wäre er fast Pleite gegangen.
Tönt nicht wirklich erfolgsversprechend, oder? Aber ich glaube schon, dass es einige Verhaltensweisen gibt, einige Tipps und Tricks, die eventuell helfen können, dass mehr Pflanzenrevolutionen möglich werden:
1. Viele Dinge tun, und nicht wenige. Viele Arten bearbeiten, viele Kreuzungen machen. Wer sein Leben lang beispielsweise nur Apfelzüchtung macht, hat eher weniger Chancen, etwas ganz Ungewohntes zu schaffen. Er kennt den Apfel und die Apfelindustrie einfach viel zu gut, um Ungewohntes zu denken und zu probieren.
2. Zu viel Wissen und Wissenschaftlichkeit ist eher ein Problem. Warum das denn? Weil es dazu führt, Wissen als Voraussetzung zu nehmen, und nicht als Instrument zu benutzen, um Neues zu schaffen. Eine gehörige Portion Naivität gehört zur Innovation, gerade auch bei Pflanzen. Und wenn Naivität nicht reicht, darf es gerne auch Unwissen sein.
3. Gentechnische Züchtungsmethoden verhindern eher grundlegende Revolutionen als dass sie sie ermöglichen. In der Regel produzieren sie nur Varianten des Gleichen (Sorte X mit der zusätzlichen Eigenschaft Y). Und noch eine Gefahr, die man bei jedem derartigen Projekt beobachten kann: Die Methode ersetzt zunehmend das Züchtungsresultat. Die Methodenforschung ist beliebter als die Züchtung selbst ?
4. Moonshots, also Versuche, aufs Geratewohl Grosses zu erreichen, gibt?s in der Züchtung definitionsgemäss beliebig viele. Letztlich ist jede Kreuzung, jeder Samen so ein Moonshot. Der entscheidende Moment ist dann der Blick, der selektioniert, und der eben nicht vom bisherigen eingeengt und korrumpiert sein soll.
5. Der Blick auf die Züchtung und auf die Pflanzen muss auf Andersartigkeit ausgerichtet sein, und nicht auf Gleichheit und Ähnlichkeit.
6. Sturheit tut not. Ein bisschen auch Unbelehrbarkeit. Siehe Luther Burbank. Man muss ja bei den Moonshots auch dran bleiben, man darf nicht die Meinung ändern beim ersten Lüftchen. So entwickeln wir bei Lubera unsere Redloves immer weiter, weil wir fest daran glauben, dass in 20 Jahren die andersartigen Redloves objektiv in vielerlei Hinsicht systematisch besser sein werden als die normalen Äpfel. Und seit über 10 Jahren arbeiten wir schon an samenlosen Äpfeln und hören eigentlich nur, dass niemand auf so etwas warte? Aber wir sind überzeugt, dass da etwas dran sein könnte, dass samenlose Äpfel den Genuss des Apfels grundlegend verändern könnten. Auch wenn es nochmal 15 Jahre gehen wird. Und was ist mit den Himbeeren, die nur 30cm hoch werden? Dranbleiben und weitermachen!
7. Und wenn die geplanten Revolutionen nicht klappen? – Ja, dann ist es auch egal. Dann werden vielleicht dort revolutionäre Pflanzen auftauchen, wo wir es nicht erwartet hätten. Vielleicht sollte man ja auch Revolutionen gar nicht planen? Denn so lautete doch die Eingangsfrage: Wie kommt das, wovon man eben nicht weiss, dass und wie es kommt?
Es kommt, aber meist ganz anderes, als man denkt.