Sie kennen die Handbewegung und das Erlebnis. Sie sehen eine wunderschöne Pflanze. Fast zu schön, um wahr zu sein. Vielleicht haben Sie die besagte Pflanze auch schon über Tage im Hotel, im Tagungsraum, im Büro übersehen, aber irgendwann fällt sie auf, weil sie nicht auffällt: Sie greifen nach dem Blatt, nach der Blüte – und ziehen die Hand entweder überrascht oder betont unauffällig zurück. Nein sie ist nicht echt. In gefühlt 80% solcher Nachtestungsfälle ist die Pflanze wirklich nicht echt. In gefühlt 20% ist die echte Pflanze einfach nur... kitschig, schön und perfekt. Aber es gibt eine Dunkelziffer: All die Fälle, bei denen die Begegnung zwischen Mensch und Kunstpflanze von ersterem gar nicht bemerkt wird. Sie wird einfach als etwas Undefiniert-grünes wahrgenommen – oder vielleicht nicht mal das. Wissenschaftler, die gerne Schubladen bauen, haben dafür auch schon den Begriff 'Pflanzenblindheit' erfunden – dabei aber wohl nicht an Kunstpflanzen gedacht. Wie gross dieser Prozentsatz ist, der Kunstpflanzen gar nicht wahrnimmt? Eigentlich muss er sehr gross sein, sonst gäbe es beispielsweise im Van der Valk Hotel Berlin Brandenburg, wo ich Anfang Juli war, nicht nur Kunstpflanzen...
Wir haben also häufig ein sicheres Gespür dafür, wenn eine Pflanze schöner ist, als es das Leben und die Natur erlauben. Jedenfalls dann, wenn uns die perfekte Pflanze überhaupt auffällt. Perfektion weckt Verdacht, übrigens nicht nur bei Pflanzen. (Nebenbemerkung, das gilt natürlich nicht für die von Lubera gelieferten Pflanzen). Wir erkennen, so vermute ich, die Pflanze als echt und lebendig, wenn sie abweicht, Schäden hat, ihr Alter zeigt, Blätter verliert wie wir Haare verlieren. Aber auch dann testen wir bei Gelegenheit nach, ohne viel, meist ohne etwas zu überlegen: Wir streicheln die Pflanze kurz, wir reissen ein Blättchen ab und werfen es gedankenlos weg. Wahrscheinlich ist dies das Gegenstück zum Test nach dem Künstlichkeitsverdacht; wir versichern uns unbewusst-bewusst, dass die Pflanze echt ist, dass sie lebt, indem wir sie berühren oder ihr sogar etwas wegnehmen. Hier stimmt nach meiner Erfahrung die Hypothese (sie lebt!) sogar in 99% der Fälle.
Wahrscheinlich ist es ziemlich natürlich und gesund, dass wir uns gleichsam nebenbei der Lebendigkeit oder Künstlichkeit der Pflanzen versichern wollen. Es ist die Liebe zum Leben, oder zumindest die Zugehörigkeit zum Leben, die uns dazu bringt. Darum vielleicht ziehe ich die Hand blitzschnell und erschreckt zurück, wenn ich eine Kunstpflanze berühre. Igitt, da ist kein Leben, da ist nur totes Material. Ist es vielleicht sogar die Angst vor dem Tod?
Bevor ich jetzt weiter überinterpretiere, wenden wir uns nochmals der Grundfrage zu:
Warum also Kunstpflanzen? Warum gibt es Kunstpflanzen und warum werden sie eingesetzt?
Kunstpflanzen – so können wir jetzt folgern – sind eine Wette darauf, dass sie nicht wahrgenommen werden. Denn wenn sie wahrgenommen werden, wenden wir uns erschrocken und indigniert ab. Igitt!
Wahrscheinlich ist das Problem mit den Kunstpflanzen sogar noch etwas komplexer und umfassender: Viele Zimmerpflanzen, viele Pflanzen in Gebäuden, auf Wirtshaus- und Terrassentischen werden auch echt und lebendig so eingesetzt, dass sie gar nicht bemerkt werden. Einfach als Kulisse. Als Fake-Grün, auch wenn es echt ist. Dann könnte man ja genauso gut auch Kunstpflanzen einsetzen… und irgendwann macht man es auch, weil es billiger ist und weniger Pflege braucht. Noch sind wir allerdings nicht ganz verblödet und entgrünt: Als in meiner Stadt kürzlich ein Schulhaus ganz ohne Pflanzen auf dem Schulhof gebaut wurde, war zwar niemand mehr wirklich überrascht (es war ja absehbar, dass es so weit kommen musste), aber die pädagogische Betonanstalt wurde doch zum Gesprächsstoff und zum toten Beispiel dafür, dass es so nicht weitergehen kann.
Aber auch Pflanzen müssen, um echt und als echt wahrgenommen zu werden, so eingesetzt werden, dass sie eine Geschichte oder besser viele Geschichten erzählen. Sie müssen überraschen und erfreuen, sie müssen in der Masse überwältigen oder als einsamer Solitär auffallen, sie dürfen sogar abschrecken oder uns zum Wundern oder zum Fragen bringen. Vielleicht können sie sogar bewusst deplatziert sein, die falsche Pflanze am falschen Ort. Oder die Farben passen so kitschig nicht zusammen, dass es schon wieder… lebendig wirkt. Essbare Pflanzen erzählen mit die besten und längsten Geschichten, weil wir im wahrsten Sinne des Wortes die innigste Beziehung zu ihnen haben. Wir essen sie oder ihre Organe und Früchte, wir vereinnahmen sie, wir machen ihr Leben zu unserem Leben.
Damit zum Ende dieses Gedankenspiels alles wieder unklar wird, was wir gerade noch zu erkennen meinten, berichte ich zum Schluss von gestern Abend, von einem Mikroerlebnis, das gar nicht ins Bild passt. (Es geht übrigens die ganze Zeit schon um wichtige Mikroerlebnisse, die in ihrer Summe unser Leben prägen): Gestern Abend waren wir mit einem Gast aus dem flachen Norddeutschland im Bergrestaurant. (Wahrscheinlich gehen wir sonst fast nie auf den Berg, weil wir ihn – wie die Pflanzen – fast nicht mehr sehen). Es war wie erhofft etwas kühler als im Tal, gutes Essen, dahinplätschernde Gespräche, Lachen, Erholung, Freundschaft. Ein schöner Abend. Nicht mehr und auch nicht weniger. Wäre da nicht die Palme am Rand der Restaurantterrasse auf 1300 Meter über Meer gewesen. Natürlich falsch! Zu schön um wahr zu sein! Die Wirtin meinte, hier (wo wir uns wie im Urlaub fühlen und sie tagein-tagaus arbeiten muss) möchte sie an ihrem Urlaub erinnert werden, unter Palmen, wohl irgendwo im Süden oder in der Südsee. Vor der Kulisse der Felsmassen auf der Bergseite und des sich dahinschlängelnden grünen Tals mit dem blauen Fluss auf der Talseite wird sogar die Kunstpflanze zum ironischen Zitat, auffällig und zum Gesprächsthema. Vielleicht hilft uns die grundhässlich perfekte Kunststoffpalme erst, den Blick an ihr vorbei über die Natur schweifen zu lassen.
Womit ich aber auch gar nichts gegen echte Pflanzen gesagt haben möchte!
Gärtnern Sie weiter!
Herzliche Grüsse
Markus Kobelt