In unseren Garten- und Pflanzentexten schliessen wir gerne mit einer Liste. Wie das genau ist, und was genau zu tun ist. Erstens bis fünftens. Denn alles soll logisch und konsequent sein. Widersprüche sehen wir nur ungerne in solchen Erklär- und Hilfetexten. Und wenn wir sie sehen, werden sie ausgemerzt. Schliesslich wissen wir ja, wovon wir reden und schreiben. Und neben uns Menschen soll uns auch Google verstehen.
Das macht natürlich vieles einfacher. Für uns bei Lubera, für die Schreiber und die Redaktion und auch für den Leser. Erstens bis fünftens. Und dann funktioniert es!
Wissen Sie was? So funktioniert es eben nicht. Die Natur und der Mensch und beide zusammen erst recht sind nicht eindimensional und konsequent, sondern kompliziert und inkonsequent. Ja, Chaos ist vielleicht die beste Beschreibung dessen, was sich uns in der Natur und im Leben zeigt, und Inkonsequenz ist die richtige Antwort darauf. Wer das nicht sieht, wird zum Dogmatiker, zum Ideologen. Darum habe ich in den ersten 1000 Videos auf YouTube immer mit dem gleichen Satz geschlossen: Glauben Sie nicht alles, was ich Ihnen erzähle… Nicht alle haben das verstanden.
Das Lob der Inkonsequenz: Das haben Andere und Berufenere vor mir schon erkannt und besungen. Lescek Kolakowski und nach ihm 1981 auch Hans Magnus Enzensberger haben darüber geschrieben. Als ich mit 18, mitten im jugendlichen Wahrheitsglauben (der schnell in Ideologie umkippt) seinen Essay zum Lob der Inkonsequenz gelesen habe, war es für mich eine richtige Offenbarung. Alles ist etwas komplizierter als gedacht, und man tut gut daran, das zu akzeptieren. Der liberale Pragmatiker des Einzelfalls ist der wirkliche Held, und der gesunde Menschenverstand ist seine einzige Richtschnur, auch und weil sie nie eine gerade Linie hält.
Pardon, sind wir jetzt noch bei der Pflanze und im Garten? Ja! Das Lob der Inkonsequenz gilt auch hier. Es kommt halt immer drauf an. Ausgeizen kann bei einer Stabtomate sinnvoll sein, aber wenn man sie dreitriebig erziehen will, ist das frühe Ausgeizen gerade falsch. Und Reben wiederum sollte man unter Umständen in der Traubenzone trotzdem ausgeizen, auch wenn man weiss, dass Geiztriebe eine positive Energiebilanz haben… (Mehr dazu lesen Sie in den Artikeln Weinreben ausgeizen und Tomaten ausgeizen – und wehe, wenn Sie uns alles glauben😉)
Aktuell beantworte ich auf Lubera.com auch viele Kundenfragen: Auch da ertappe ich mich häufig beim Gedanken, dass ich mir – jetzt gerade! – widerspreche. Sie können düngen oder schneiden oder auch nicht oder beides zusammen. Vieles lässt sich mit Sinn vertreten und verargumentieren – und nicht selten tönt das Gegenteil ebenso überzeugend. Überhaupt sind Sinn und Stimmigkeit reine Erfindungen des Homo sapiens.
Das Lob der Inkonsequenz hat noch eine andere Dimension: Die Dimension der Selbstironie. Der immer Konsequente nimmt sich selber und sein Tun zu ernst. Sooo wichtig bin ich ganz einfach nicht und auch nicht das, was ich tue. Auch Gärtner sollten sich und ihr Tun nicht so ernst nehmen.
Es gibt Wichtigeres!
Oder vielleicht doch nicht?