Eigentlich habe ich gar keine Zeit, mir über die Zeit Gedanken zu machen. Es ist Garten- und Gärtnerfrühling, wir sind mit dem Versand selbstverständlich im Rückstand, überall leuchten Warnsignale auf, überall Arbeiten und Aufgaben, die mehr oder weniger ungeduldig darauf warten, erledigt zu werden. Nach 35 Gärtnerjahren habe ich aber auch gelernt, dass es nach dem Frühling noch immer Sommer geworden ist. Die Zeit…
Letzte Woche verhandelte ich mit dem örtlichen Elektrizitätswerk die Verträge, mit denen wir von der Fotovoltaikanlage auf dem neuen Gewächshaus Strom beziehen können. Dauer des Vertrages: 30 Jahre, ein halbes Leben. Ich brauche ziemlich viel Glück, um das Ende des Vertrags zu erleben… Langsam wird es eng mit der Zeit. Was kümmert mich jetzt, was in 30 Jahren sein wird?
Die langsame, kriechende Dauer der Zeit kenne ich von der Pflanzenzüchtung. Wir machen jetzt Apfelkreuzungen und Himbeerkreuzungen, die vielleicht in 15 Jahren zu Sorten führen können. Schwierigere Projekte, wie die neuen Kreuzungen zwischen Himbeeren und Brombeeren, brauchen eher 20 bis 30 Jahre, und fast sicher sind nach dem jetzigen Kreuzungsgang nochmals zwei Züchtungsgenerationen bis zum Resultat, bis zu irgendeiner brauchbaren Sorte notwendig. Irgendwie kümmert es mich doch, was in 30 Jahren sein wird, natürlicherweise bei den Pflanzen mehr als bei den Kilowattstunden. Und vielleicht habe ich ja Glück und es geht alles viel schneller. Aber ganz sicher nur, wenn wir jetzt viel arbeiten. Wir investieren (Zeit) in eine Wette auf die Zukunft. Ist Glücksspiel vielleicht doch vernünftig?
Aktuell blühen in unserem neuen Züchtungsgewächshaus, aber auch auf den Züchtungsfeldern viele Pflanzen: Johannisbeeren, Stachelbeeren, jetzt auch schon die Äpfel. Die Vierbeeren blühen langsam ab, die Erstbeeren/Maibeeren sind schon fertig, die angesetzten grünen Früchtchen nehmen langsam Form an. Die gärtnerische Zeit im Frühling geht besonders schnell. Das gärtnerische Frühlingsgefühl: Ich werde links und rechts von den Pflanzen und ihrer Entwicklung überholt. Kann ich den Wettlauf gewinnen, habe ich eine Chance gegen die rasende Frühlingszeit?
Ein Kunde schreibt eine atemlose, verängstigte E-Mail. Seine Johannisbeeren sind von der Johannisbeer-Blasenlaus befallen. Er fragt sich und mich, ob es da überhaupt noch eine Rettung geben könne oder ob man den Strauch nicht besser gleich entsorgen soll. Was hat das aber mit der Zeit zu tun? Der Kunde gibt offensichtlich sich und der Pflanze keine Zeit.
Tempus fugit, sagt der Lateiner, die Zeit flieht. Aber vor wem, warum und wohin?
Sollen wir mitfliehen? Es gelingt nie und nimmer, die Zeit aufzuhalten. Den Moment kann ich vielleicht gerade noch packen, aber nur wenn ich ihn sofort wieder loslasse. Aber die Zeit? Das Gute an der Zeit: Sie kommt immer wieder, unendlich, übrigens (und tückischerweise) auch ohne uns. Auf jeden Fall sollte man keine Pflanze töten, nur weil man ihr und sich keine Zeit mehr geben will.
In einem der ältesten Werke zur Agronomie, zur Landwirtschaft, erzählt der arabische Gelehrte Ibn al Awam, wie man einen unfruchtbaren Zitronenbaum doch noch zum Blühen und Fruchten bewegen könne – indem man ihm nämlich ernsthaft die Axt androhe, dem unbotmässigen Bäumchen aber dann doch noch ein weiteres Jahr Zeit einräume, die Erwartung des Landwirts zu erfüllen. Die Geschichte funktioniert übrigens überraschend gut und häufig. Warum? Weil die Drohung üblicherweise dann kommt, wenn es Zeit ist, wenn sowohl Baum als auch Gärtner Langmut und Geduld verlieren. Eines steht fest: Ohne das zusätzliche Jahr, ohne mehr Zeit würde der Zitronenbaum totsicher nie Früchte tragen. Also gib deinen Pflanzen noch ein Jahr– und vielleicht noch eines.
Betriebswirtschaftlich habe ich gelernt, dass Zeit kostet. Der Baum, der schneller trägt, ist rentabler. Schnellere Züchtung wäre auch rentabler, vor allem wenn es gelänge, sich von Anfang an nur auf die erfolgreichen Projekte zu konzentrieren…. Allerdings ist ein toter Baum auch sehr unrentabel. Und bei der Züchtung sind viele Wetten besser als wenige.
Ich gehe seit 30 Jahren davon aus, dass Züchtungszeit gratis ist. Sie ist – das hat Zeit so an sich – immer sofort abgeschrieben, vorbei, Schnee von gestern, geschmolzen. Gehen wir doch einfach davon aus, dass Gartenzeit ebenfalls gratis ist, jedes Jahr wieder neu aufgefüllt wird.
Gib dir und deinen Pflanzen, gib deinem Garten Zeit.
Herzliche Grüsse
Markus Kobelt