Was ist ein Flieder (Syringa)? Na klar, dieser opulente, im Mai blühende Strauch, mit dem betörenden, für manche auch manchmal zu intensiven Duft. Dieser Duft wird es auch sein, der den Flieder sowohl zu einem Symbol des Lebens, der beginnenden romantischen Liebe als auch des Todes gemacht hat.
Eine Enzyklopädie zur Symbolik der Pflanzen vermutet gar, der Duft sei gerade willkommen, neben einer aufgebahrten Leiche die richtigen Gerüche zu verbreiten … Vielleicht verlassen wir aber für heute die bedeutungsschwangere Symbolik und wenden uns der leichteren, beschwingteren und auf jeden Fall lustigeren Sprachgeschichte zu …
Meint Flieder wirklich den in der frühen Neuzeit erst aus der Türkei oder Arabien nach Europa importierten Blütenstrauch? – Nein! Noch im Wörterbuch der Gebrüder Grimms (Bd. 3, erschien 1862) wird das Wort Flieder mit keiner einzigen Zeile mit Syringa in Verbindung gebracht, sondern bedeutet noch immer, was es im deutschsprachigen Raum in den verschiedensten Dialekten immer bedeutet hatte: Holder- oder Holunderbaum, Sambuccus nigra.
Kommt Ihnen das jetzt irgendwie bekannt vor? Vor allem wenn man die zusammengesetzten Wörter Fliederbeere, Fliederblüte, Fliederblütensirup hört und liest, die heute noch verbreitet und aktiv gebraucht werden, erinnert man sich langsam an diese alte, verloren gehende Bedeutung. Was in diesen zusammengesetzten Wörtern noch lebendig ist, war wohl bis ins 19. Jahrhundert hinein (Grimm!) vor allem im eher nördlichen und östlichen Deutschland die Standardbedeutung: Flieder war der schwarze Holunder, mit seinen Blüten, seinem Duft, seiner Symbolik. Als im 16. oder 17. Jahrhundert die Syringe, wie sie auch genannt wurde, der duftende Blütenstrauch aus Arabien und aus der Türkei nach Europa kommt, wird er zunächst zögerlich, dann immer häufiger auch als welscher, türkischer oder spanischer Flieder bezeichnet. Das findet in modernen Zeiten sein Gegenstück darin, dass in Sprachregionen, in denen die alte Holunderbedeutung noch aktiv ist, der Holunder dann seinerseits als wilder oder schwarzer Flieder gekennzeichnet werden muss, um gegen die Übermacht des Duftblütenstrauchs anzukommen, der längst nur noch “Flieder” genannt wird.
Was aber hat zu dieser Wortübertragung oder Bedeutungserweiterung geführt? Vielleicht halt doch der Duft, der Blütenduft, der beiden Pflanzen eigen ist? Man stelle sich vor: Da kommt ein fremdartiger, aber sehr attraktiver, blühender und duftender Stauch in eine Region, in einen Sprachraum – und es gibt kein Wort dafür! Das Vakuum muss schleunigst aufgefüllt werden, ein Wort muss her. Und lange vor dem Fremden nimmt dann doch lieber das Eigene … Die lebendige Sprache ist da – mindestens über so einen kurzen Zeitraum gesehen – viel weniger kreativ und neuschöpfend als man meinen könnte. Und so wird halt – faute de mieux – kurzerhand ein bekanntes Wort gekapert und in neue Gefilde entführt, ein Wort, das mindestens in einigen Bedeutungsteilen (Pflanze, Strauch, Blüte, Duft) Parallelen aufweist.
Mit der gleichen Strategie hat der Flieder in neuerer Zeit auch noch mindestens eine zusätzliche Pflanze unter den breiten Wortmantel gepackt: die Buddleja davidii, den Schmetterlings- oder Sommerflieder, der erst 1887 zum ersten Mal beschrieben wurde und ursprünglich aus Tibet und China stammt.
Manchmal aber mutieren Wörter und ihre Bedeutungen auch wieder zurück: Im schweizerischen Appenzell wurde 2002 ein (im Übrigen sehr erfolgreiches) Mischgetränk aus Holunderblüte und Melisse Flauder genannt. Dabei soll das Wort Flauder auf den appenzellischen Dialektausdruck Flickflauder für Schmetterling zurückgehen … Ob hier im Hintergrund auch noch der Schmetterlingsflieder seinen modernen Einfluss geltend machte? Aber uns scheint es nahliegender, dass hier bewusst oder unbewusst dem alten Holunderwort, dem Fleder oder Flieder, Tribut gezollt wurde. Nicht von ungefähr basieren auch neuere Varianten des Flaudergetränks auf nichts anderem als: Holunder- oder eben besser Fliederbeerensaft. Und vielleicht könnten wir uns mit der Appenzeller Getränkealchemistin und Flauder-Erfinderin Gabriela Manser darauf einigen, dass am Ende der gleiche Wortstamm allem zugrunde liegt, dem Flieder, dem Fleder, dem Flauder, ja sogar und vor allem der Fledermaus und dem Flickflauder: das Wort “flattern” und seine Wortvorfahren. Denn wenn das Wort Flieder in seiner Geschichte und botanischen Bedeutung eines sicher war, dann dieses: Etwas flatterhaft.