Immer mal wieder - gerade auch zur sommerlichen Sauregurkenzeit - kommt es über mich, und ich muss etwas provozieren: Schon seit Jahren rege ich mich über die Verteufelung fremder, nicht einheimischer Pflanzen auf und vor allem auch über die Unsitte, möglichst jede einigermassen erfolgreiche fremde Pflanze als gefährlich und invasiv zu verteufeln oder wenn möglich zu verbieten. Dazu gehören unterdessen (in der Schweiz) Kirschlorbeer, Schmetterlingsflieder, ja sogar die weitverbreitet und auf aufgelassenen Baugrundstücken florierende und fröhlich vor sich hin fruchtende armenische Brombeere taucht auf solchen Listen auf.
Das Video zum Thema
Ausgangspunkt der Diskussion ist dieses Video, das ich spontan im Garten meines Freundes Reto Rohner aufgenommen habe; der Schmetterlingsflieder lachte mich einfach an!
Video: Die verbotene Schönheit der Buddleja davidii
Die ersten Kommentare
Ich kann ziemlich gut einstecken - genauso wie ich auch lustvoll austeilen kann. Aber es fällt doch auf, wie emotional die Kommentare sind: Ganz offenbar kann nicht sein, was nicht sein darf. Andere Meinungen werden nicht akzeptiert, eigentlich auch nicht diskutiert, sie sind "dumm-dreist" und eigentlich einfach "pfui". Am besten hört man gar nicht hin und stellt den Videokanal ab.
Hier trotzdem die Kommentare von Youtube. Irgendetwas muss schon dran sein, dass einige Zuseher so emotional reagieren, wenn ich Ihre Glaubensgrundsätze ins Wanken bringe...
'simvlacrvm'
Ich liebe den Channel, lese jeden Newsletter und bestelle gelegentlich, aber das Video hier ist das Allerletzte. Invasive Pflanzen schlicht als erfolgreich zu bezeichnen ist eine dumm-Dreistigkeit, für die Sie sich schämen sollten.
'Mat Anon'
Ja finde das auch echt heftig mit welchem Grinsen das sogar noch erzählt wird. Ob Herr Kobelt immer noch lacht wenn im Nachbargarten Japanischer Staudenknöterich wächst?
'borstenhoernchen'
Dieses Video haben Sie jetzt nicht wirklich gemacht, oder? Neobiota als Zukunft? Bekommt Ihnen die Hitze nicht? Sie verursachen mit so etwas hohen Schaden. Umweltorganisationen müssen viel Spendengelder für Goldruten, Knöterich, Springkraut und Co. ausgeben. Und dann erzählen Sie, jemand der den Menschen was lehren will, das dies eine Chance sei? Ich möchte Sie jetzt nicht beleidigen, doch ein Deabo ist gewiss, wenn das nicht als Scherz deklariert wird. So etwas sollte niemand unterstützen. Geld verdienen und dabei die Natur zerstören, pfui!
Meine erste Antwort: Seid dankbar für die Buddleja!
Zunächst mal herzlichen Dank für den Kommentar und natürlich noch mehr für die Bestellungen. Eigentlich sollte man ja Kunden nicht widersprechen, aber ich tue es jetzt doch :-)
Das, was man gerne als invasive Pflanzen bezeichnet, ist per Definitionen erfolgreich, sonst wäre es ja kein «Problem». Es sind Pflanzen, die sich bei uns und unter unseren Umständen wohl fühlen und verbreiten. Dass sie erfolgreich sind, ist dabei noch keine Wertung, nur eine Beschreibung. Entwicklungen in der Natur - und dazu gehören sowohl der Mensch als auch die Tiere und Pflanzen - sind nicht zielgerichtet, und eigentlich auch nicht gut oder schlecht. Ist es gut oder schlecht, dass die Dinosaurier ausgestorben sind und dass sich neue Tiere und andere Pflanzen durchgesetzt haben? Es ist halt einfach ein Fakt.
Es gibt eine Handvoll solcher invasiven Pflanzen, die tatsächlich ein Problem darstellen, weil sie zu viel verdrängen und vor allem weil sie Allergien und ähnliches auslösen. Diese müssen bekämpft werden und man tut gut daran, sich dabei auf wirklich gefährliche Pflanzen zu beschränken. Denn je mehr man auf der Liste hat, desto kleiner werden die Chancen, bei der Bekämpfung erfolgreich zu sein. Pflanzen sind die erfolgreichste Lebensart auf dieser Erde, und dagegen kommt auch der ach so starke Mensch nur schwerlich an.
Diese Veränderungen in der Natur, mit denen sich viele so schwer tun, nennt man auch Evolution. Natürlich ist der Mensch in dieser modernen und wohl auch schneller werdenden Evolution ein entscheidender Agent. Es ist fast schon witzig, wie ein Teil der Umweltbewegung (die an und für sich wertvoll ist und zu der ich mich eigentlich auch zähle) und auch viele, die von invasiven Neophyten schwätzen, krampfhaft versuchen, den Menschen aus der Natur wegzudenken. Er ist halt da, wir sind halt da. Und es ist besser, uns alle mitzudenken. Und dankbar zu sein für Pflanzen, die sich in dieser menschenbeeinflussten Natur neu durchsetzen. Wie zum Beispiel - manchmal - die Buddleja.
'borstenhoernchen'
Gartenvideo.com, Sie haben es echt nicht verstanden. Es geht darum dass es Kettenreaktionen auslösen kann. Eine Pflanze verdrängt die Andere, manche Bestäuber bräuchten aber genau diese, schon ist die Tierart dort verschwunden. Die Vielfalt gilt es zu bewahren. Von alleine läuft eine Pflanze keine tausenden Kilometer. Ich bin sowohl in Pollichia als auch im Nabu aktiv gewesen, ich weiss wovon ich spreche. Was Sie schreiben ist Unsinn gefährlich und falsch. Ich werde von Ihnen noch was kaufen noch werde ich Werbung für Sie machen. Doch Ihre Art zu denken werde ich jedem kundtun. Von wegen Geschwätz! Ja Sie widersprechen und erzählen den selben falschen Mist noch mal. Ohne sich noch einmal zu informieren. Komisch sind’s doch die Schweizer die ein Einfuhr- und Verkaufsverbot für Japanischen Staudenknöterich haben. Da denken wohl doch noch 2-3 bei euch mit. Sorry ich beende hier mein Abo jetzt.
Wir brauchen Neobiota - meine Antwort zu den Kommentaren auf YouTube
'Borstenhörnchen' hat recht: Neobiota, neue einwandernde und sich verändernde Pflanzen und Tiere sind ein Teil unserer Zukunft. Leben und Natur funktioniert nicht ohne Erneuerung!
1. Veränderung
Wenn sich Klima, Gesellschaft und Umwelt ganz allgemein ändern, wird sich auch die Natur und die Pflanzenwelt ändern (müssen). Eine rein bewahrende Haltung versucht diese Anpassungsleistung zu verhindern. Zum guten Glück ist sie meist erfolglos.
2. Evolution
Die Evolution ist nicht irgendwann gestern gestoppt worden, sondern sie geht weiter. Dabei ist der Mensch zum wichtigsten Agenten der Evolution geworden (Verkehr, Platzbedarf, Industrie, Dienstleistungsgesellschaft etc. pp), die Entwicklung geht auch schneller. Das mag man beklagen, aber es ist ein Riesenfehler, dies mit einer rein bewahrenden, superkonservativen Haltung zu verleugnen. Natur verkäme dann zum Museum. Zum guten Glück machen die Pflanzen da nicht mit...
3. Die Fittesten überleben
Die Evolution funktioniert halt eben so, dass die erfolgreiche Art sich durchsetzt. Invasive Neophyten sind per Definition erfolgreich, dadurch werden sie ja als Problem wahrgenommen. Und natürlich verdrängen sie anderes (das, was weniger erfolgreich ist, nicht mehr so gut in die sich verändernde Umwelt passt); sie besiedeln aber auch Räume (z.B. in der Stadt, auf Brachflächen, in Industrieruinen), die sonst ohne Pflanzen auskommen müssten. So funktioniert Leben, so funktioniert Natur. - Nebenbemerkung: Dass die simple Tatsache, dass die Fittesten überleben so unbeliebt ist, hat auch mit einem in der heutigen Gesellschaft weitverbreiteten und in Deutschland besonders hochgehaltenen Gerechtigkeitswahn zu tun: Es ist doch einfach ungerecht, wenn altverdiente Pflanzen verschwinden. Nochmals fürs Protokoll: Leben und Natur funktionieren nicht nach dem Prinzip der Gerechtigkeit.
4. Wo bitte liegt das Problem?
Die grosse Mehrheit der fremden Pflanzen und auch der sogenannten invasiven Neophyten sind zwar erfolgreich, besetzen einen Nische, sind aber absolut unproblematisch. Auch wenn sie altes verdrängen, schaffen sie in Summe mehr neues (siehe unten). Will man die kleine Minderheit von wirklich schädlichen (nebenbei: Meist für den Menschen schädlichen) Pflanzen wirklich bekämpfen, ist man gut beraten, sich auf die Wichtigsten zu konzentrieren. Und auch dann sind die Chancen ziemlich beschränkt.
5. Umweltorganisationen
In der Diskussion werden Umweltorganisationen benannt: Hier bin ich ebenfalls ziemlich kritisch. Die Angstmacherei vor allem Fremden und einigermassen Erfolgreichen bedient Instinkte, die die gleichen Leute in der Politik verurteilen. Und die Angststrategie (ja keine Veränderungen!) dient vor allem dem Ziel, den eigenen Apparat zu erhalten und auszubauen (Stichwort: Spendengelder). Interessanterweise haben die meisten Umweltaktivisten, die im Bereich Natur stockkonservativ sind, in gesellschaftlichen und politischen Fragen liberale, ja manchmal sogar ausgesprochen linke Haltungen. Wie passt das zusammen? - Der 'Gerechtigkeit' halber soll aber auch nicht unerwähnt bleiben, dass das Gerede von fremden und fremdländischen Pflanzen vs einheimischen Pflanzen im braunen Sumpf der 20er bis 40er Jahre entstanden ist.
6. Kompensation
Das Gerede von einheimischen/fremden Pflanzen und weitgehend auch von invasiven Neophyten hat eine kompensatorische Ursache: Es beruhigt das schlechte Gewissen, das genau weiss, wieviel Natur wir konsumieren. Komisch ist nur, dass dann Veränderungen (und Natur ist Veränderung) verhindert werden sollen.
7. Nochmals: Veränderungen
Wir sind uns wohl einig darüber, dass sich die Veränderungen - mindestens gefühlt, wohl auch in Wirklichkeit - beschleunigen. Dafür sind wir Menschen (ja auch ICH) meist höchst selbstverantwortlich. Vor ein paar Jahren beklagte nach einer Weiterbildungstagung beim abendlichen Bier ein älterer Schrebergärtner aus der ehemaligen DDR das Auftauchen von neuen Krankheiten, die es so in der DDR (ja: In der guten alten Zeit) nicht gegeben habe. 15 Minuten später erzählt er von einer Reise nach China und von den Samen, die er mitgenommen habe. Freiheit ist unteilbar. Der Preis ist Veränderung.
8. Diversität
Letztlich ist in der Natur Diversität ein Wert an und für sich: Mehr Diversität führt zu mehr Chancen auf Zukunft, aus Mehr kann mehr entstehen, können Lösungen für Probleme gefunden und Anpassungen an Veränderungen entwickelt werden.
9. Darum geht es: Mehr oder weniger Diversität
Wenn wir diese Veränderungen beurteilen wollen, dann geht es doch eigentlich darum, ob sie am Ende mehr oder weniger Diversität schaffen. Aber weil wir alle so gebannt auf die Verluste starren, sind wir zunächst versucht, das Gerede vom Artensterben einfach zu reproduzieren. Ja, es gehen Arten verloren und wahrscheinlich auch zu viele. Aber es entstehen in den neuen Nischen auch neue Arten und es wandern fremde Arten ein, die sich hier wohlfühlen und erfolgreich sind. Unzählige wissenschaftliche Untersuchungen zeigen, dass in der von Menschen gestalteten und verunstalteten Umwelt im Vergleich zu 'früheren' Zeiten mehr unterschiedliche Habitate entstehen: Viele unterschiedliche Gartenwelten (muss ich natürlich zuerst erwähnen), Alleen, Hecken, Risse im Beton, Risse im Asphalt, Industriebrachen, Parks, Sportplätze, Parkplätze. Und in jedem dieser Habitate macht sich eine eigene und unterschiedliche Pflanzen- und Tierwelt breit. Jedes einzelne Habitat mag weniger Arten zählen als die alte 'Natur'. In der Summe aber nimmt die Diversität in grösseren Räumen (Regionen, Provinzen, Länder) nicht etwa ab, sie nimmt eindeutig zu. Und dafür sind fremde Pflanzen und Tiere wesentlich mitverantwortlich. Ja, und auch Insekten, Pilze, Viren, die wir meist nur als Plagen und Krankheiten wahrnehmen.
10. Wissen
Es ist wichtig, dass diese Diskussion mit Wissen geführt wird, und nicht nur mit Gefühlen. Natürlich verschwindet in jedem Augenblick Natur. Aber was entsteht dabei an Neuem? Ist es richtig, sich nur auf die Verluste zu konzentrieren? Eine augenöffnende und gut lesbare, manchmal sogar richtig spannende Zusammenfassung über die Forschungsresultate quer über alle Kontinente und bezüglich Tierarten und Pflanzenarten ist im Buch von Chris D. Thomas zu lesen: Inheritors of the earth - How Natur is thriving in an age of extinction, UK 2017. Gibt‘s aktuell leider nur auf Englisch, erhältlich bei Amazon.
Ein Stückweit um das gleiche Thema geht es auch in der Geschichte über David Fairchild und seine lebenslange Jagd nach neuen, fremden Pflanzen, eben Neobiota...
Unverständlich, aber so sind Menschen
Markus Kobelt