Es ist Herbst. Und jetzt kämen in einem klassischen Editorial die Farben, die Blätter, die Pflanzzeit, und das Licht zur Sprache… Mir ist aber heute eher philosophisch zumute. Das kann ich mir ja auch leisten, weil ich weiss, dass unser Redakteur zielsicher einen Werbeblock in meine luftigen Gedanken einbauen wird. Ja, wir wollen auch verkaufen, sonst lassen sie mich keine philosophischen Editorials mehr schreiben…
Auf meinen letzten Gartenbrief hin schrieb mir eine Leserin, dass sie genauer wissen möchte, warum ich immer so angespannt und leicht aggressiv gegen alte Sorten lästere, was ich gegen alte Sorten hätte.
Die Antwort – recht überlegt – ist komplexer, als ich selber gedacht hätte. Aber sie beginnt immerhin ganz einfach:
Ich habe eigentlich gar nichts gegen alte Sorten, ohne sie gäbe es nämlich auch keine neuen (siehe die Lubera® Originale aus unserer Züchtungsarbeit). Alte Sorten sind nämlich nicht alt, weil irgendjemand etwas gegen sie hat, sondern weil sie durch neuere weiter entwickelte Sorten abgelöst werden, die besser ins aktuelle Umfeld passen. Eine Stachelbeere voll Mehltau kann niemand mehr anbauen – und wenn wir dieses Problem in Zukunft nicht noch besser lösen, wird es irgendwann keine Stachelbeeren mehr geben. - Immer weniger Menschen kennen und schätzen die Vorzüge von schmelzenden Birnensorten. Igitt, so etwas kann man doch nicht essen, das ist man ja voll bekleckert, Zähne braucht man auch kaum zum klassischen Birnengenuss, und für was bitte soll unser Zahnapparat gut sein, wenn wir dieses saftige Mus verdrücken… Eine Frucht wie die Birne, die gerade mal für 2–3 Tage im idealen Genusszustand ist, wird die heutigen Konsumenten nicht mehr lange überleben. Niemand hat mehr Köchinnen und Bediente, die den Birnenvorrat tagtäglich überprüfen und die gerade besten Früchte kredenzen. Auch die Birne muss neu erfunden werden, wenn sie überleben soll.
Der eigentliche Grund für unsere Verlustängste bei Pflanzen (und Tieren) und unsere daraus folgende Beschützermentalität ist unsere eigene Angst vor dem Tod, vor dem Sterben. Intuitiv – und richtigerweise – erkennen wir in den Pflanzen unser Leben. Ja, Pflanzen leben und sie sind ziemlich intelligente Lebewesen, wie wir auch. Und alles an uns (bis hin zu Tatsache des Lebens selber) ist zu 100% direkt oder indirekt Pflanzen-basiert. Die meisten Ersatzteile, die wir einbauen lassen, eingeschlossen. Das Leben der Pflanzen ist auch unser Leben. Es wäre jedenfalls ganz gut, wenn wir das nicht nur unbewusst und angstbasiert zur Kenntnis nehmen würden. Und der zwanghafte Schutz- und Bewahrungsmechanismus ist vermutlich der falsche Ansatz. Wie wäre es doch schrecklich, wenn sich die Millionäre und Milliardäre dieser Welt eingefroren ein ewiges Leben erkaufen könnten?
Aber wie ist das nun mit dem Ewigen Leben (egal ob christlich oder unchristlich gedacht). Und jetzt kommt die Überraschung meiner herbstlichen Nachdenkrunde vor den schon halb entblätterten Bäumen in meinem Garten: Das Ewige Leben ist eine Tatsache. Wir leben weiter in den Menschen der Zukunft. Ganz real: Wer von Euch hat nicht schon in der Tochter, im Neffen die Eigenschaften des eigenen Vaters, der verstorbenen Mutter entdeckt? Gleich und doch anders. (Bei den eigenen Eigenschaften ist das Wiedererkennen etwas schwieriger, da es da zu viele Abgrenzungsmechanismen gibt…)
Und bei den Pflanzen – genau das Gleiche. Alte Sorten leben in den neuen Sorten weiter, viel besser und erfolgreicher, als sie es im Pflanzenmuseum könnten.
Der Fokus muss längerfristig nicht auf das Sammeln und Bewahren gerichtet sein, sondern auf das Weiterentwickeln.
Ebenso fragwürdig sind alle Versuche, in der sogenannten Natur (die bei uns mindestens zu 95% Menschen-gemacht ist) einen wie auch immer definierten, vermeintlich perfekten Status quo zu erhalten. Leben bedeutet immer auch Veränderung. Und weil wir Menschen nun mal der alles entscheidende Player sind, tragen wir auch dafür die Verantwortung.
Die Verbindung zwischen Menschen-Leben und Pflanzen-Leben ist bei Kulturpflanzen, insbesondere bei essbaren Pflanzen noch viel intimer, als es die obige Parallelführung auf den ersten Blick erkennen lässt. Wir können ohne sie buchstäblich nicht leben, wir entwickeln sie weiter in unserem Interesse. Und umgekehrt machen sich Kulturpflanzen auch vom Menschen abhängig, ohne sein Interesse, ohne seine Arbeit und ohne seine Züchtung droht das Ende – oder eben das Museum.
Aber jetzt ist wirklich genug mit den Gedankenflügen. Du musst in den Garten, ich in die Baumschule...
Wir müssen weiterarbeiten, weiterzüchten, und auf jeden Fall Pflanzen pflanzen und vermehren. Ja genau, nur so können sie und wir leben.
herzlich
Markus Kobelt