Im Jahre 1997 oder 1998 Jahre besuchte ich die Ukraine. Meine Baumschule war noch sehr klein, meine Neugierde umso grösser. So kam ich in dieses riesige Land, um mir die Pflanzenzüchtung, vor allem die Obstzüchtung anzuschauen, zu lernen, vielleicht auch Eltern für meine Züchtungsarbeit zu finden.
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Inhaltsverzeichnis
Der Schweizer in der Ukraine
Etwas Unwohlsein, eine Portion Deplatziertheit gehören auch zu dieser erinnerten Reise: Ich wollte vor allem Sorten für meine Züchtungsarbeit sammeln; meine Gastgeber dagegen wollten das Geschäft ihres Lebens machen und Westeuropa mit roten Johannisbeeren aus der ukrainischen Züchtung überziehen. So ganz passten die beiden Erwartungshaltungen nicht zusammen…
Begeistert war ich vor allem von der Johannisbeerzüchtung. Ein guter Teil unserer heutigen Sorten beruht auf Eltern, die ich damals gesammelt habe. Vor allem unser Cassiszüchtungsprogramm wäre ohne ukrainische Ureltern und Ururgrosseltern nicht denkbar. Vielleicht wurde ich damals vom unheilbaren und ziemlich unvernünftigen Cassisvirus infiziert, das mich dazu bewog, diese ziemlich unwichtige Obstart zu einem der grössten und umfangreichsten Züchtungsprogramme bei Lubera zu machen. Vernünftig ging es übrigens auf dieser Reise ganz selten zu, manche Tage und Reiseabschnitte kommen mir zumindest in der Erinnerung heute ziemlich absurd vor.
Von einem grossen Züchtungsinstitut in der Nähe von Kiew bekam ich einen Fahrer und einen Führer gestellt. Als ich meinen Begleiter fragte, warum um Gottes Willen wir denn einen Fahrer für unser Büchsenauto bräuchten, antwortete er ernst und bestimmt: "Damit wir trinken können." Wir besuchten jeden Tag ein neues Züchtungsinstitut, jeder Tag ein neuer Züchter, der mit seiner Obstart die Welt veränderte. Ganz sicher: Neben den grossen Distanzen war auch die überbordende Gastfreundschaft dafür verantwortlich, dass ich den Überblick über die Obstarten verlor: Irgendwie schaffte ich es nicht, den mittäglichen und abendlichen Toastsprüchen auszuweichen oder wenigstens nicht alles zu schlucken. Jedenfalls war ich ganz selten ganz nüchtern. Und so mag es sein, dass sich über mein Ukraine-Züchtungserlebnis ein blauer Schleier legte. Sommer, Sonne, Staub, weites Land und Alkohol. Ach ja: und unendlich viele Beeren und Früchte.
Wie war es damals gewesen. So oder anders? Wo hatte ich was gesehen, gehört? Die Abschiedsveranstaltung vergesse ich allerdings nicht. Mein Begleiter, der Direktor eines Instituts, vor uns zwei Schalen mit unwirklich grossen und schönen grünen und roten Stachelbeeren. Dazu eine Zuckerdose. Der Prozess bestand jetzt darin, die Stachelbeeren in den Zucker zu tauchen, dann die Qualität der Züchtung zu loben, knackend und schmatzend die saftigen Riesenbeeren zu geniessen und schliesslich eine kräftigen Schluck Wodka zu nehmen, nicht ohne auf die rosige Züchtungszukunft anzustossen. In den Schalen lagen ziemlich viele Stachelbeeren – und ich wollte nicht unhöflich sein.
Auftritt Dr. Illja Shevchenko – Der Sanddornzüchter
Irgendwo auf dieser Reise, im Süden der Ukraine, in Cherson lernte ich nach Lonicera-, Ribisel-, Stachelbeer-, Cassiszüchtern auch einen Sanddornzüchter kennen; er hatte in Moskau studiert, am Lisavenko-Institut in Sibirien gearbeitet, machte jetzt hier, was der dort gelernt hatte… Sanddorn pflanzen und züchten. Dr. Illja Shevchenko war überzeugt, dass der Sanddorn die Weltgeschichte verändern könnte, mindestens die gesamte Landwirtschaft. Alles Gute war darin zu finden: Öl, Vitamine, Farbstoffe, Carotinoide. Natürlich auch genug Vitamin C, um die Erkältungskrankheiten auszurotten. Und das alles in riesigen Mengen, zumindest wenn man Tausende von Hektaren anbauen würde. Was man unbedingt müsste. Die Ukraine ist ja gross genug. Das Gesetz der grossen Zahl hatte Dr. Illja in Russland gelernt.
Illja war ein veritabler Sanddorn-Evangelist. Leider war es aber noch ca. ein Monat bis zur Ernte, so dass wir die Früchte von Shevchenkos Züchtungsarbeit nicht wirklich degustieren und beurteilen konnten. Wodka dafür schon. Illja Shevchenko sprach Englisch, er hatte vor zwei Jahren 6 Monate in Oregon zugebracht und – zur Abwechslung – Heidelbeeren gezüchtet. So konnte ich für einmal auf die Dienste des Übersetzers verzichten, den ich im Verdacht hatte, immer allzu schnell zum Ess- und Trinkgelage überzuleiten. Neben dem Sanddorn hatte Dr. Illja noch eine zweite Leidenschaft: Er hasste seine Züchtungskollegen auf der Krim, die seiner Meinung nach das blosse Sammeln mit Züchtung verwechselten. Über die russischen Vorarbeiten im Lisavenko-Institut sprach er besser, aber so richtig zu Blüte und zum Fruchten würden die Sanddorne erst in der Ukraine und in Cherson kommen. War Illja jetzt ein früher ukrainischer Patriot, oder war er doch nur der Nation des Sanddorns verpflichtet? So sicher ist das bis heute nicht zu entscheiden. Dr. Illja – so viel verstand ich von seinem ukrainischen Englisch – versuchte Sanddorn zu züchten, der frisch essbar wäre, richtig süss und aromatisch. Dies werde durch intensive Einzüchtung des sibirischen, mongolischen Sanddorns Hippophae rhamnoides spp mongolica möglich. Nur leider leider könne er jetzt, einen Monat vor der Ernte, den Beweis nicht wirklich antreten. Ein Schluck Wodka. Danach jetzt zumindest Sanddornsaft. Ich solle es einfach glauben: Sanddorn könnte sehr sehr süss sein. Noch ein Schluck Wodka.
Meine späte Entdeckung des ukrainischen Sanddorns
Vor einigen Jahren erreichte mich eine E-Mail von Dr. Illja, nun pensioniert. Die Sanddornzüchtung war aus Geldmangel an seinem Institut aufgegeben worden, er hatte aber das meiste Material in den Garten seiner Datscha, seiner 3 Datschen gerettet. Nur so war genug Platz für die ganze Sanddornwelt. In den besten Züchtungsjahren hatte er alle 2 Jahre 100 000 Sämlinge ausgesät. Ob ich wieder in die Ukraine kommen könnte? Nein, ich wollte nicht, der Sanddornvirus hatte sich bei mir nicht wirklich festsetzen können. Da waren ja schon der Cassisvirus, der Feigenvirus, der Apfelvirus, der Erstbeerenvirus… Ukrainische Züchter, ich erinnerte mich, konzentrierten sich immer nur auf eines, auf eine Art, aber dafür gleich hunderttausendfach, millionenfach. Dr. Illja schickte mir daraufhin einige Sanddornsorten zum Testen, die wir heute, nochmals einige Jahre später, in unserem Sortiment einführen.
Die Ukraine-Serie der endgültig süssen und vielfach dornenlosen Sanddornsorten.
Illja hatte recht. Und ich hatte vor 25 Jahren den süssen Sanddorn um einen Monat verpasst.
Bild: Hippophae rhamnoides spp mongolica
Alternative Realitäten: Der sibirische Sanddorn
Die erzählte Geschichte tönt ja einigermassen vernünftig. So könnte es gewesen sein. Allerdings ist da ja der blaue Dunstschleier, der sich über die 25-jährige Erinnerung legt. Könnte die Geschichte des Sanddorns auch ganz anders gewesen sein?
Wir kennen unterdessen zur Genüge die alternativen Realitäten – und sie sind auch fast nicht zu ertragen. Der russische Versuch, die Ukraine auszulöschen, wird als Entnazifizierung getarnt. Russland mordet Zivilisten, bombardiert Städte, Eisenbahnknotenpunkte und Spitäler und macht der eigenen Bevölkerung weis, sie würden nur eine Spezialaktion durchführen und die russische Seele verteidigen. Das sehen wir tagtäglich auf CNN und BBC und ZDF anders.
Was aber haben der Krieg in der Ukraine und die Sanddorngeschichten miteinander zu tun?
Für einen ganz kurzen Moment halten wir uns an die Wahrheit: In Tat und Wahrheit wurden die Ukrainischen Sanddorn-Sorten in Russland gezüchtet. Die Sanddornzüchtung startete 1933 im Lisavenko Gartenbau-Institut in Sibirien. Zuerst wurden wilde Sanddornbestände gesammelt – vom nahen Fluss Katun. Später wurden jährlich Hunderte von Züchtungskombinationen durchgeführt, 50 000 bis 100 000 Sämlinge produziert und schliesslich ab 1964 auch Dutzende von Sorten auf den Markt gebracht. Die Eigenschaften der sibirischen Sanddornsorten:
- grosse Beeren bis über 1g
- sehr hoher Ölgehalt, deshalb schon milder Geschmack
- Zucker-Säure Verhältnis bis über 8, also wirklich süsser Geschmack
- hohe Erträge bis 17kg pro Strauch (nach 7 Jahren)
- relativ kompakter Wuchs von ca. 3m
- mitteldornige bis fast dornenlose Sorten erleichtern Kultur und Ernte
Der russische Illja Shevchenko heisst übrigens Yiry A. Zubarev. Es gibt fast keinen Artikel über Sanddorn, den er nicht geschrieben hat. Aber theoretisch hätte ich natürlich auch einen Sanddornzüchter auf meiner Ukrainereise treffen können. Die orange Sanddorn Manie verbreitet sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts von Sibirien aus über die ganze UDSSR, auch in der Ukraine.
"Expropriiert die Expropriateure!"
Ein in Russland beliebter deutscher Schriftsteller hat diesen Satz vor weit über 100 Jahren geschrieben. Er ist ziemlich praktisch. Er rechtfertigt praktisch jeden Diebstahl. Und die meisten Diebstähle werden nicht einmal entdeckt.
Wir haben uns entschlossen, Russland den Sanddorn wegzunehmen. Den Sanddorn zu stehlen. Einfach so. Und den Sanddorn den Ukrainern zu schenken. Sie haben es verdient. Und vielleicht habe ich ja Dr. Illja auf meiner Ukrainereise doch getroffen.