Das Wurzel-Aquarium von East Malling

Fast alle gängigen Apfelunterlagen, also die Wurzelteile, auf denen Apfelbäume  veredelt werden, tragen Bezeichnungen, die mit M (wie Markus;-) beginnen: M27,  M9, MM111, MM106, M26. Das M steht dabei eben leider nicht für Markus, sondern für die Englische Forschungsanstalt, in der diese Unterlagen, mit denen die  Wuchsstärke, die Fruchtbarkeit und in bestimmten Grenzen auch die Grösse und  Farbe der Äpfel gesteuert wird, gezüchtet wurden: East Malling (www.emr.ac.uk).  Man könnte auch ohne zu übertreiben sagen, dass East Malling sozusagen die  Basis, die Wurzel des gesamten Modernen Obstbaus, ob erwerbsmässig oder  hobbymässig betrieben, darstellt.
 
Das dies noch viel eindrücklicher  und viel wahrer ist, als gerade formuliert, habe ich diese Woche erfahren, als ich mit meiner Gastgeberin, Felicidad Fernandez durch die Anlagen in East Malling spazierte (Frau Fernandez ist neben ihren vielen andere Jobs und Berufungen die aktuelle Unterlagenzüchterin in East Malling). Da sah ich doch plötzlich eine Art unterirdischen Bunker, dessen Dach und Belüftungslöcher gerade noch in der Wiese sichtbar waren, offensichtlich schon ziemlich alt und nicht mehr aktuell im Gebrauch. Aber im Gebrauch für was? Eben dies fragte ich mich auch – und meine Gastgeberin antwortete umgehend und ohne nachzudenken, wie wenn es die grösste Selbstverständlichkeit wäre: Das ist unser altes Wurzellabor!
 
Wurzellabor?
 
Ja, vor einigen Jahrzehnten wurde hier tatsächlich ein gefühlt  50 m langer Bunker in den Boden gebaut, dessen Seitenwände aus Glasfenstern bestehen, die aber – da unterirdisch – nicht den Blick auf die grosse weite Welt freigeben, sondern das aktuelle Wurzelwachstum der daneben, dem Bunker entlang,  gepflanzten Obstbäume zeigen, oder besser: zeigten. Das Bild zu diesem Newsletterbeitrag zeigt ein ebensolches Fenster, auf dem Glas sind auch noch die Notizen zu lesen, die damals sozusagen live das Wurzelwachstum kommentierten. Das muss damals doch ein sehr spezielles Gefühl gewesen sein, nicht nur unter Bäumen, sondern sogar unter und neben der Baumwurzeln zu wandeln – vergleichbar vielleicht nur mit einem Besuch im Meeresaquarium, wo man den Fischen ja auch auf Augenhöhe begegnet.
 
Sie finden nun fast sicher das Englische Pflanzenaquarium etwas schräg? -Ja ja, ich gebe gerne zu, dass man wahrscheinlich doch schon ein Pflanzenzüchter oder pflanzenverrückter Engländer sein muss, um auf so eine Idee zu kommen und dann auch  dieses spezielle Kribbeln zu spüren, wenn man live der Wurzel aller Baumprobleme nachspüren konnte. Aber ich habe noch kaum je ein besseres Beispiel gefunden, um diese Pflanzenverrücktheit, die vielleicht schon speziell ‚Englisch‘ ist, zu illustrieren.
 
Und selbstverständlich ist es ein gutes Beispiel, um den noch immer aktuellen Forschergeist unserer Züchterkolleginnen und -kollegen in East Malling zu illustrieren – und die lange und glanzvolle Geschichte dieses Instituts, das nächstes Jahr seinen 100 jährigen Geburtstag feiern wird.
 
Markus Kobelt
 
PS: Hier geht’s zur Bilderstrecke, das noch einige weitere Bilder aus East Malling zeigt, so nebenbei am letzten Donnerstag fotografiert