Gestern Sturm, Regen und Graupel, heute der einzige schöne Tag am Osterwochenende.
Da muss ich in den Garten: GENIESSEN, nicht arbeiten (oder doch nur ein bisschen arbeiten).
Die absolut notwendigen Utensilien dazu: Einige Bücher, englische Gartenzeitschriften, eine grosse Zigarre (Marke Geheimtipp), dazu ein Glas Sirup, ist auch rot, Wein würde Sinne und Gedanken dann doch zu stark benebeln ? Habe ich noch etwas vergessen? Ach ja das unvermeidliche Telefon, für das schon erwähnte kleine Bisschen Arbeit.
Der Schauplatz: die Garten Lounch, gleich hinter dem Prunus Kanzan, der schon ganz dicke Knospen treibt, der Sessel ausgerichtet auf die ca. zehnjährige rosa Sternmagnolie. Die Blüten an den Triebenden öffnen sich gerade, äugen vorsichtig in den Garten, sie hätten letzte Nacht schon erfrieren können, und auch die nächsten Tage werden sie nicht sicher überleben. Aber hinter den endständigen Frühblüten warten noch genug Knospen, die mehr Vorsicht walten lassen und ihre Blütenblätter noch eingefaltet halten. Also heisst es hier und jetzt zu geniessen, was die Natur zu bieten hat. Überhaupt findet ja Genuss immer (nur) hier und jetzt statt. Also nochmals und immer wieder die Sternmagnolie ins Auge gefasst: Hinter den paar Erstblüten ist der perfekte Kronenaufbau zu sehen, die Nachmittagssonne lässt die helle Rinde fast silbrig glänzen. Ich frage mich, wie ich die Magnolie einmal schneiden soll, wenn sie (bald schon) zu gross geworden sein wird, ohne die Skulptur, das natürlich gewachsene Kunstwerk der Äste zu zerstören.
Die Zigarre brennt unterdessen. Der Rauch, nachdenklich geblasen, schiebt sich immer wieder zwischen mich und die Magnolienskulptur. Die Gedanken hängen in den Ästen. Ha, vor 20 Jahren liessen wir in Frostnächten noch riesige Frostschutzkerzen in den Obstanlagen abbrennen, um die Blüten zu schützen. Aber ich kann ja nicht die ganzen Nächte durchrauchen …
Ich blättere in den Gartenzeitschriften. Mir fällt auf, dass ich in den englischen Journalen mehr Interessantes finde als in den deutschsprachigen. Das kann aber auch mit der Distanz zusammenhängen. Dennoch gibt es auffällige Unterschiede: Die Artikel sind spezieller, mehr Baumschulen, Gärtnereien, Pflanzenjäger, spezielle Pflanzenwelten, gezeigt an und mit Persönlichkeiten. Die Funde heute Nachmittag: Ein ?verrückter? Gärtner, der essbare Pflanzen sammelt und produziert, ich kenne nur die Hälfte, den muss ich diesen Sommer unbedingt besuchen. Und James Wong präsentiert in einem Artikel Auszüge aus seinem neuen Buch ?Grow for flavour?. Das Buch habe ich schon bestellt.
Die Zigarre brennt gut und langsam, das Aroma entfaltet sich. Zugegeben, Pflanzendüfte hätten jetzt keine Chance …
Dazwischen ein Telefon. Mit Daniel Auderset, der mit seiner Partnerin Nicole Fischer unseren Lubera Mundraubgarten auf Schloss Ippenburg plant. Der Bau hat begonnen. Die Herrin des Ippenburger Gartens, Frau von dem Bussche meldet verheerendes Wetter. Wir hoffen, dass wir trotzdem während des Frühlingsfestivals sozusagen live für die Besucher pflanzen können.
Immer noch die Zigarre. Diese Zigarre kann gut und gerne zwei bis drei Stunden dauern. Garten braucht Zeit, eine Zigarre ebenso, sie hat auch kein Problem damit, zwischendurch vernachlässigt zu werden, einfach nur still glimmend dazuliegen. Mit Gärten ist das etwas anders.
Bücher. Habe eben gerade am Morgen in Bregenz das ?Etymologische Wörterbuch der botanischen Pflanzennamen? von Helmut Genaust gekauft. Endlich ein Buch, in dem man ohne schlechtes Gewissen blättern darf, denn man wird es nie ganz lesen müssen. Schnell ?Prunus? nachgeschlagen. Ein lateinisches Wort, klar. Aber im Lateinischen bedeutete es nur Zwetschgen und Pflaumen, erst mit Linné verschiebt sich das, wird zur nomenklatorischen Klammer für alles Steinobst. Das ist meinem Prunus Kanzan natürlich so was von egal, aber doch spannend für den alten Sprachwissenschaftler in mir. Dann ?Magnolia?. Die Art wurde von Charles Plumier 1703 nach Pierre Magnol, einem französischen Arzt und Botaniker benannt, der als erster den Begriff der Familie einführte. Magnol, auch Petrus Magnolius genannt, kann mit dieser superben Gattung, die seinen Namen trägt, mehr als zufrieden sein. Linné und seine Nachfolger waren bei der Benennung von neu entdeckten Pflanzen durchaus nicht immer frei von Ranküne. Nicht selten wurde ein konkurrenzierender Botaniker ganz bewusst mit einer minderen oder unscheinbaren Gattung oder auch nur Art bedacht. Dazu gibt es wunderbare Geschichten, einige davon erzählt Andrea Wolf in ihrem Buch ?Brother Gardeners?, das die Entstehung des englischen und amerikanischen Gartenbewusstseins im 18. Jahrhundert erzählt, unter besonderer Berücksichtigung des Grossen Pflanzenpolitikers aus Schweden.
Die Zigarre, diese Zigarre will bis zum Ende, das eben nicht bitter ist, geraucht werden.
Karfreitag hin oder her, Mathias Röttgen, der immer zuverlässige Redaktor unseres Newsletters, hat heute das wöchentliche Angebot an die Abonnenten verschickt. Der Newsletter mit vielen redaktionellen Texten, unter anderem diesem hier, erscheint dann nächste Woche und ich biete Mathias gleich per Telefon meine neuesten und zigarrengeborenen Ideen dafür an …
Noch in einem anderen Buch blättern? Es ist schon ziemlich kalt, die Zigarre aber wird wärmer.
Wieder ein dickes Buch. Douglas Hofstadter über Analogien, über die Muster, die unser Denken und Erkennen steuern. Auch die Gedanken dieses Nachmittags funktionieren wahrscheinlich nach diesen Gesetzen. Das Buch ist aber leider nicht zum Blättern geeignet, 600 Seiten schwer. So schwer wiegt auch mein schlechte Gewissen, denn ich werde bis … ja mindestens bis zum nächsten Winter sicher nie dazu kommen, es zu lesen.
Alles hat ein Ende. Auch diese lange Zigarre. Ich bin so zufrieden, wie man nur zufrieden sein kann. Liegt?s nun an der Zigarre und ihren wundersamen Inhaltsstoffen? Oder doch eher am Prunus Kanzan und der Sternmagnolie?
Es ist definitiv zu kalt geworden, das zu entscheiden.
Erwähnte Bücher:
RHS Grow for Flavour
Etymologisches Wörterbuch der botanischen Pflanzennamen
The Brother Gardeners
Die Analogie: Das Herz des Denkens