10 Uhr nachts. Auf der Autobahn von Bad Zwischenahn zurück nach Buchs. Ein verpasster Anruf meines Vaters auf dem Handy. Er ist 86, da ruft man schon mal zurück. Ja, es gebe Neues zu berichten. Der Boskoop-Baum vor seinem Haus, vor meinem Elternhaus, sei gefällt worden. Bis auf den Wurzelstock. Nur noch ein schmaler intakter Holzring habe den Stamm, den Baum, die Krone aufrechtgehalten, das Ganze sei innen hohl gewesen, keine Ahnung, wohin sich das Material verflüchtigt habe. Der Baum, der die Parzelle, der das Häuschen meiner Eltern dominierte ist nicht mehr. Das hatte sich schon vor einigen Wochen angekündigt, als bei einem Gewitter ein Hauptast brach, ebenfalls hohl.
Meine Eltern bauten ihr Haus vor mehr als 50 Jahren, ordentlich und unverdächtig ca. 2 Jahre vor meiner Geburt, auf dem damals noch fast freien Feld, dem Tiefenacker. Und wie zufällig stand da bereits ein ca. 20 jähriger Apfelbaum, ein Boskoop. Mit etwas gesundem Architekturverstand (mein Vater plante das Haus selber) konnte der pavillonartige Bau hinter den Baum geschoben werden, um den leicht verschmerzbaren Preis, dass das Häuschen auf der gegenüberliegenden Nordseite des Grundstücks dann auf den Minimalabstand zur Grenze zu stehen kam. Der Boskoop aber stand stolz und dominierend gerade vor dem Stubenfenster. Auf der Nordseite hatte es gerade noch Platz für eine Reihe Johannisbeeren.
Nun ist mein Vater beileibe kein Gärtner, und schon gar kein Pomologe. Wenn ich diesbezüglich erblich vorbelastet bin, hat es entweder eine Generation übersprungen (mein Grossvater war Gärtner) oder geht auf die Familie meiner Mutter zurück, die immer schon Obstbäume veredelt hat. Sonst eher den technischen Dingen zugetan, beruflich Elektriker und ein ingeniöser Bastler, konzentriert mein Vater seine Gartenliebe auf genau drei Pflanzen. Erstens auf den Boskoop-Baum vor dem Haus. Nein, nicht des Baums wegen, sondern einzig und allein für die reiche Ernte. Ich kann mich daran erinnern, dass er zu seinen Berufszeiten bis zu 5 Boskoop pro Tag mit auf die Arbeit nahm. Ob er wohl wusste, dass Boskoop-Äpfel bis zu 4x mehr Vitamin C enthalten als viele andere Apfelsorten? Jedenfalls war ihm kein Trick, keine Massnahme zu viel, um den Boskoop-Baum und seine Früchte zu schützen: Stundenlange Bewässerungen, Düngerinjektionen, Pilzabkratzen, jährliche Pflanzenschutzberatung und vieles mehr. Zweitens ist mein Vater ein grosser Salatproduzent vor dem Herrn. Ob Triebbett oder Freiland, ob Schnittsalat oder Zuckerhut, kein Trick wird ausgelassen, um die nachhaltige und ganzjährige Versorgung der Familie sicherzustellen. Dann drittens Holunder. Holunder? Ja Holunder! Ich weiss nicht wie es kam, aber wohl auch hier vom Essen her. Auch die Gartenliebe geht halt durch den Magen. Mein Vater liebt Holunderkonfitüre und Holundermus über alles. Gegen Ende seiner Laufbahn als Betriebsleiter der örtlichen technischen Werke pflanzte er an diverse Travostationen und Wasserreservoirs selber vermehrte Holundersträucher und beobachtete nachher als Pensionierter mit amüsiertem Interesse, welche Pflanzen überlebten. Und natürlich erntete er auch hier und da. Eine letzte solche Guerilla-Pflanzaktion führte er noch vor einigen Jahren zusammen mit seinem Enkel, mit meinem Sohn Lukas, aus.
Zurück zum Boskoop-Baum. In welchem Alter klettern Kinder eigentlich auf Bäume. Wenn ich mich an Lukas erinnere: so zwischen 5 und 9. Allerdings kletterte Lukas – wie könnte es bei der Familiengeschichte auch anders sein – auf den Holunderbaum hinter meinem Haus. Mein Kletterbaum aber war der Boskoop vor dem Elternhaus. Er muss also schon damals gross und stark genug für meine Kletterversuche gewesen sein, denn sonst hätten das meine sonst ziemlich ängstlichen Eltern nie zugelassen (sie sollten denn auch später immer den wackligen Kletterholunder ihres Enkels kritisieren …). Und so wenig Sport mir sagte und so wenig ich in der Schule das Bedürfnis hatte, die berüchtigten Eisenkletterstangen auf den Pausenplätzen hoch zu steigen (man sieht diese Folterinstrumente heute kaum mehr), so häufig war ich in meinen Kletterjahren auf dem Boskoop-Baum. Genug weit weg, genug nahe zum Himmel, um die Gedanken frei schweifen zu lassen oder um mich selber in Karl May?s Abenteuer hineinzuerzählen. Aber auch genug nahe zur Mutter, zum Butterbrot und zum Süssmost. Der Boskoop- Baum, wie immer in Kindheitserinnerungen, war riesig, so gross wie er wahrscheinlich nie geworden ist. An was ich mich noch ganz genau erinnern kann: Da ich vom ersten Astkranz nie runterzuspringen wagte, zog ich es vor, die letzten zwei Meter Stammhöhe, den Baum sozusagen umarmend, runterzurutschen. Das Gefühl der kühlen und doch rauen Rinde ist noch immer da, ganz real. Einer, der den Baum umarmt? Nicht nur das! Es mag wohl schon so gewesen sein, dass wir rund um den Baum auch mal tanzten.