Ein Fehler der Natur? Jetzt sind wir immer noch bei der Bocksfeigen. Biologisch hochinteressant, aber aus Menschensicht offensichtlich keine Überflieger. Wie kommen wir von da zu "unseren" Fruchtfeigen? Auch ich habe ja meine ganz und gar menschlichen Interessen. Feigensicht hin oder her, was interessiert mich die Schönheit der Natur, wenn nichts oder nur wenig Essbares für mich abfällt?
Kommt jetzt vielleicht der Zufall ins Spiel? Die Biologie der Bocksfeige und der Feigenwespe ermöglicht beiden eine gesunde Fortpflanzung und auch genügend Vielfalt, um zu überleben. Offenbar so viel Vielfalt, dass es auch zu Abweichungen, zu Mutationen ausserhalb des Erwarteten kommt. Wenn man so will, sind das Reproduktionsfehler, Kopierfehler der Natur. Die meisten dieser Fehler verschwinden wieder von selbst, weil sie für die meisten Spielteilnehmer (Pflanze, andere Pflanzen, Tiere, andere Lebewesen, Menschen) uninteressant bzw. sogar mit Nachteilen verbunden sind. Bei der Feige aber überlebt vor allem eine neue Spielart: Eine Variante, die deutlich längere Blüten entwickelt und entsprechend auch eine viel grössere und attraktivere Frucht hervorbringt. Das ist nun attraktiv für den Menschen und auch für andere Tiere, nicht nur für Ziegenböcke mit ihrem bekannt beschränkten kulinarischen Horizont. Aber mit den grösser werdenden weiblichen Blüten werden die männlichen Blüten verdrängt. Sie waren schon am Rand, gerade bei der Ostiole, jetzt werden sie nach und nach sprichwörtlich über Bord geworfen, bis kaum mehr etwas übrig bleibt. «Wie soll das jetzt alles noch funktionieren?», fragen Sie sich jetzt vollkommen zu Recht.
Nun ja, ab und zu wird sich schon noch eine weibliche Feigenwespe in eine solche Smyrna-Fruchtfeige verirren. Diese sieht ja zum Zeitpunkt der reifen und empfangsbereiten weiblichen Blüte ziemlich genau wie eine Bocksfeige aus. Und einmal eingedrungen wird die Feigenwespe auch hier ihre Befruchtungsaufgabe für die Feige erfüllen. Also wird auch die Smyrna-Feige auf ihre Rechnung kommen; ihr eigentliches Werk aber, nämlich für die eigene Nachkommenschaft zu sorgen, wird sie nicht erfüllen können, da sich die Narben der Blüten viel zu lang gestreckt haben und der Legestachel der Wespe bei weitem nicht mehr bis ins Ovarium reicht. Und so sucht die Feigenwespe dann verzweifelt eine passenden Blüte, springt nervös in der dunklen und viel zu eng gewordenen Feigenfrucht herum, streift ebenso fleissig wie unfreiwillig den Pollen auf den Narben - nur um schliesslich elendiglich und unverrichteter Dinge zugrunde zu gehen.
Die clevere Feige aber, der wir unterdessen alles zutrauen müssen, reift unbeeindruckt und dank der verzweifelten Arbeit der tragischen Wespe zu einer wunderschönen und grossen und süssen Frucht heran.
Markus Kobelt
Weitere spannende Feigen-Geschichten finden Sie hier:
Die Geschichte und Biologie der Feige, Teil 1
Die Geschichte und Biologie der Feige: Die Ur-Feige, Teil 2
Die Geschichte und Biologie der Feige: Auftritt Feigenwespe, Teil 3
Die Geschichte und Biologie der Feige: Die Caprifikation, Teil 5
Die Geschichte und Biologie der Feige: Die Kulturfeige, Teil 6
Die Geschichte und Biologie der Feige: Der Mensch als Feigensklave, Teil 7
Wer’s lieber etwas sachlich und botanisch haben möchte, der kann sich noch meinen Beitrag zu den verschiedenen Feigentypen anschauen. Der erklärt schon vieles. Aber halt eben nicht alles.
Ganz kurz und knapp habe ich das Thema “Wie und wo Feigen blühen und befruchtet werden”, in meinem Facebook Live-Video geschildert (speziell über die Feigen geht es ab der 28. Minute):
Meine Quelle: Ira J. Condit, The Fig, Boston USA 1947
Alle Illustrationen in diesem Artikel stammen aus Ira J. Condits grossem Feigenbuch.
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