Die Namen meinen es nicht besonders gut mit der "Stachelbeere". Wer möchte schon gerne nach seiner negativsten Eigenschaft benannt sein? Und: Kann etwas gut sein, was so stachlig ist? Der Gedanke, dass eine solcherart beschützte Beere eben gerade besonders wertvoll und delikat sein müsste, wurde wohl nur ganz selten zu Ende gedacht – und zu Ende gegessen. Bei Lubera® können Sie Stachelbeeren kaufen und im eigenen Garten anbauen.
Dazu gibt es noch weitere stachelartige Hemmschwellen auf dem Weg zum Beerengenuss: Viele ältere Sorten, aber auch die neuere Einführung ‘Invicta’, haben mit feinen Drüsenhaaren "bewehrte" Früchte, eine Eigenschaft, die dem Essgenuss auch nicht gerade förderlich ist. Haarige Früchte - igitt! Vielleicht ist dies auch mit ein Grund dafür, dass viele Menschen (auch meine Frau!) Stachelbeeren nur aussaugen, also nur die weichen, gallertartigen Innereien rund um die Samen ausschlürfen… Diese Essensart kommt für einen Stachelbeer-Aficionado wie mich zwar fast einem Sakrileg gleich, aber ich muss wohl nochmals ein Jahrzehnt lang fast stachellose und auch unbehaarte Stachelbeeren züchten, bis ich auch nur in der eigenen Familie die lange eingeübten Vorurteile überwinden kann… Ja, vielleicht gründet hier einer der ganz persönlichen Antriebe für unser überdimensioniertes, leicht verrücktes Stachelbeerzüchtungsprogramm. Übrigens: Wenn Sie selber Stachelbeeren pflanzen wollen, finden Sie im Shop kräftige und robuste Stachelbeerpflanzen.
Die Engländer, die von sich behaupten, die Stachelbeere regelrecht erfunden zu haben, und erst recht die Franzosen, meinen es mit ihren Benennungen ebenso wenig gut mit der Stachelbeere: "Gooseberry" und "groseilles à maquereau". Die Stachelbeere, so demonstrieren die beiden Begriffe, wird auf ihre Eignung als Kompottbeilage zur eher fettigen Gans und zur öligen Makrele reduziert. Das kann zwar die kreativen Kochgeister beflügeln, aber wird der Beere und ihrem Potential als frische Genussfrucht halt auch wieder nicht gerecht. Ich bin mir zwar nicht ganz sicher, ob die etymologischen Herleitungen so wirklich stimmen, aber dass diese Herleitungen existieren und kolportiert werden, zeigt halt den Status der Stachelbeere als Verarbeitungsfrucht, als zu Kompott verarbeiteter Kontrapunkt zu öligen und fettigen Fleisch- und Fischspeisen. Und es geht noch weiter, die linguistische Herabwürdigung dieser wunderbaren Frucht scheint kein Ende nehmen zu wollen: In der englischen Umgangssprache meint "Gooseberry" die störende dritte Begleitperson eines Liebespaars oder ganze einfach ein überflüssiges Gruppenmitglied, das 5. Rad (oder englisch "third wheel") am Wagen. Wer möchte da noch gerne Stachelbeere sein?
Stachelbeerfimmel – gooseberry craze
Trotz ihres etwas speziellen Namens inspirierte die Gänsebeere – Gooseberry – die liebenswert-spleenigen Engländer zu einer ganz besonderen Art der Wertschätzung. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts entstanden vor allem im früh industrialisierten Mittel- und Nordengland die sogenannten “Gooseberry Clubs” und vermehrten sich bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts zu einem regelrechten Gooseberry-Hype: Über 170 Clubs widmeten sich dem Anbau der Stachelbeere, der jährlich in einer Show gipfelte, in der es eigentlich nur um eines ging und noch immer geht: um die grösste Frucht. Diese “Gooseberry Clubs” stellen eine ganz spezielle und frühe Schnittmenge der englischen Wett- und Wettbewerbslust mit der Liebe zum Gartenbau dar. Die durch die Industrialisierung neu entstehende Arbeiter- und vor allem Angestelltenklasse kann sich nun Hobbies leisten: Die "Gooseberry Clubs" verbinden die Messmanie und "Wissenschaftlichkeit" des beginnenden Industriezeitalters mit einer kleinbürgerlichen Kopie der aristokratischen Gartensehnsucht. Die Anzucht der grössten Stachelbeerfrucht braucht keinen grosszügigen Landschaftspark, sondern findet genug Raum im eng gezirkelten Vorgarten oder Hinterhof eines Reihenhäuschens. Dabei stellen die Statuten der Clubs bis heute sicher, dass bei einem gärtnernden Ehepaar nicht unlautere Wettbewerbsvorteile entstehen: Wollen Ehemann und Ehefrau an einem Wettbewerb teilnehmen, müssen sie zunächst sicherstellen, dass ihre jeweiligen Stachelbeersträucher strikt getrennt in separaten Bereichen des Gartens kultivieren werden. "Du nimmst den Vorgarten, ich den Hinterhof." Über 100 Jahre lang verzeichnete eine nationale Publikation, "The Gooseberry Growers Register" die jährlichen Clubgewinner, die prämierten Sorten und vor allem, die Höchstgewichte, die bis auf unglaubliche 57.9 g anstiegen. Noch heute zeigen die Champions an der "Egton Bridge Old Gooseberry Show", die den Stachelbeerwettbewerb seit über 200 Jahren durchführt, eiergrosse Stachelbeermonster von über 30 g. Wie das möglich ist? Schon früh in der Vegetationsperiode werden nur die schönsten und am vorteilhaftesten hängenden Früchte am Strauch gelassen, das vegetative Triebwachstum, das mit dem Fruchtwachstum konkurriert, wird durch Pincieren beschränkt, die besten und wohl auch abseitigsten Tricks bleiben aber das Geheimnis der Champions. Spezielle Düngermischungen, englische Regenschirme über den Stachelbeersträuchern (um die Früchte vor dem Regen und dem Platzen zu schützen), die Erhöhung der Luftfeuchtigkeit durch untergestellte Wasserbehälter und vieles mehr gehören zum eindrucksvollen gartenbautechnischen Arsenal, das da im wahrsten Sinne des Wortes in die Waagschale geworfen wird. Maurers Stachelbeerbuch von 1913, das ein bisschen neidvoll die Errungenschaften der Engländer zitiert, bildet gar eine spezielle Apparatur ab, mit der neben dem Gewicht auch das Volumen der eingereichten Stachelbeerfrüchte akkurat gemessen werden kann. Als Geheimtipp präsentiert Maurer das sogenannte "Suckling": Ein Wollfaden wird um den Stiel der schwellenden Früchte geschlungen und befördert über den Kapillarmechanismus Wasser aus einem untenstehenden Wasserbehälter hinauf zur Stachelbeerfrucht, damit sich diese schneller vollsauge ?
Dass sich der Hype dann in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zunächst leicht abkühlte, um nach dem ersten Weltkrieg ganz zum Stillstand zu kommen, hat sicher mit den beiden Kriegskatastrophen des 20. Jahrhunderts, aber auch mit dem Mehltaudesaster der europäischen Stachelbeere zu tun. War die Messerei und Wägerei der Stachelbeerfrüchte zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch ein passender Ausdruck der Zukunfts- und Fortschrittsgläubigkeit – und ist sie heute noch eine liebenswerte Schrulligkeit – so war sie irgendwann zu Beginn des 20. Jahrhunderts ganz einfach nicht mehr zeitgemäss. Das wussten irgendwie auch die Herausgeber des «Gooseberry Growers Register», die sich im bitteren Ernst zu rechtfertigen suchten: "Kurz, keine Arbeit, Sorgfalt und Geschicklichkeit darf gescheut werden, die die Erzeugung der Riesenstachelbeeren bezwecken, die so oft verhöhnt werden, aber in Wirklichkeit Triumphe der Geschicklichkeit und Trophäen der Kultur und der Ausdauer sind" (zitiert bei Maurer, 1913)